Gute Führung wird meist als durchsetzungsstark, motivierend und zielorientiert beschrieben. Demütig ist dagegen ein Adjektiv, das selten vorkommt, wenn es um Leadership geht. Dietrich von der Oelsnitz denkt, dass Demut die entscheidende Eigenschaft ist, die Chef:innen zu guten Führungskräften macht. In seinem Buch “Demut – Leise Führung für eine laute Zeit” beschreibt er, wie wir in Zukunft führen müssen. Im Gespräch erklärt er, ob es wirklich Charisma braucht, um gut zu führen, und wann man als Mitarbeiter:in seine sieben Sachen packen sollte.

Demütig zu führen, kann man lernen.

herCAREER: Prof. Dr. von der Oelsnitz, wo sehen Sie Gründe für einen Verlust an Vertrauen in das Führungspersonal?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Führungskräfte haben – nicht immer, aber doch oft – ihre eigene Karriere im Auge, dazu müssen sie nicht gleich Narzissten sein. Nach meiner Beobachtung neigen sie dazu, die Arbeitskräfte nicht als Menschen, sondern als Instrument für ihr eigenes Vorankommen zu sehen. Es sind oft dominante Menschen, die sich fragen, was können meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für mich tun? Anstatt zu fragen: Was kann ich für sie tun?

herCAREER: Ist es wirklich so schlimm?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Es gibt unzählige Beispiele, ich denke etwa an den Wirecard-Skandal. Auch der einstige Audi-Chef Rupert Stadler hat vor Gericht über den Abgas-Skandal bei VW ausgepackt und meinte, in den oberen Etagen wussten alle davon. Viele sagen, das war doch schon immer so. Heute wird Fehlverhalten aber öfter aufgedeckt, auch durch guten Wirtschaftsjournalismus.

herCAREER: Aber nicht jedes Führungspersonal handelt korrupt, oder?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Nein, und für den Vertrauensverlust in Führungspersonal gibt es noch andere Gründe als die Führungskräfte selbst: Die Arbeitnehmer haben heute hohe Erwartungen, sie können mit steilen Hierarchien und Autorität meist wenig anfangen. Und der globale Leistungsdruck verschärft die Lage zudem.

herCAREER: Sie sagen, Mitarbeiter blühen unter demütigen Chefs auf – wie kommt das?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Demütige Führungskräfte kennen ihre Fehler und ihre Unzulänglichkeiten. Und sie lassen sich helfen. Die Studie der Harvard-Professorin Amy Edmondson „Die angstfreie Organisation” verglich Teams und ihre vermeintlichen Fehler. Edmondson fand heraus, dass die vermeintlich schlechtesten Teams nicht mehr Fehler als die anderen Teams machten; sie machten ihre Fehler nur transparenter. Das heißt, ihre offene Feedbackkultur, in der offen über Dinge gesprochen wird, die noch nicht perfekt sind, hat die Teams statistisch schlecht abschneiden lassen. Das waren aber letztlich die innovativsten Teams, die aus ihren Irrtümern gelernt haben.

herCAREER: Demut ist ein Begriff, der oft im christlich-religiösen Kontext verwendet wird. Wieso eignet er sich zur Charakterisierung eines Führungsstils?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Ich habe mal den Bibelspruch gelesen: Wer unter euch der Größte sein will, der sei der erste Diener. Dieses Bild finde ich passend, weil es zeigt, dass auch die „Oberen“ im Dienst der Sache stehen. Ich finde, das ist eine gute Metapher für Führung auch im betriebswirtschaftlichen Sinn. Aber das Konzept der Demütigen Führung braucht natürlich nicht zwingend ein religiöses Fundament. Das Nachdenken über eine gute Führung findet man bereits im Taoismus oder bei Aristoteles, es ist ein immer gültiges Menschheitsthema.

herCAREER: Sind Sie religiös?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Ja.

herCAREER: Wie setzt sich der Begriff Demut zusammen?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Demut setzt sich aus drei Bausteinen zusammen: Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Offenheit. Mit Bescheidenheit meine ich, Erfolge nicht nur für sich zu reklamieren und gemeinsam erzielte Erfolge mit den Mitstreitern teilen zu können. Mit Offenheit meine ich eine transparente Kommunikation, die nicht hintenrum läuft. Und ehrlich bin ich, wenn das, was ich sage, auch meinem Herz und meinem Gefühl entspricht.

herCAREER: In manchen Arbeitsumfeldern scheint es keine Zeit für Demut und Empathie zu geben – beispielsweise auf der Baustelle oder in Großküchen –; ist ein demütiger Führungsstil auch möglich, wenn es schnell gehen muss?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Es gilt, operative Hektik von einer prinzipiellen Einstellung zu unterscheiden. Klar, es gibt Drucksituationen, wo man auch mal anschreien muss auf dem Platz – ich mag die Fußball-Metapher. Das ist vor allem bei High-Performance-Teams der Fall. Das sind beispielsweise Rettungskommandos, die zu einer Massenkarambolage auf die Autobahn rausmüssen. Sondereinsatzkommandos der Polizei – Teams, die sehr schnell Entscheidungen treffen müssen und sich dementsprechend dafür absprechen beziehungsweise schnell ein gemeinsames Verständnis von der akuten Lage herstellen müssen, sogenannte Shared Mental Models. Da wird mal gebrüllt, aber das nimmt normalerweise keiner übel. Auf dem Fußballplatz wird ständig gebrüllt. Wenn es insgesamt eine positive Teamkultur gibt, dann kann es auch mal hektisch werden und rustikaler im Ton.

herCAREER: Ist es wichtiger für eine Führungskraft, Ziele zu erreichen, oder das Team zusammenzuhalten?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Beides. Ich denke nicht, dass Ziele langfristig erreicht werden, wenn das Team nicht zusammenarbeitet. Kurzfristig mehr Druck machen und das Ziel erreichen, klappt sicherlich. Aber wer sich langfristig so verhält, macht die Kooperationsbasis am Ende kaputt.

herCAREER: Was ist die Rolle der Geführten?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Ein guter Mitarbeiter bringt seine Fähigkeiten ein und denkt im Kollektiv. Bei einer öffentlichen Bank in Thüringen habe ich einmal beobachtet, dass die Wissensweitergabe, der Informationsfluss stockte. Denn Wissen ist Macht, und Monopolwissen macht Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wertvoll für ihr Unternehmen. Wir haben das so gelöst: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bekamen pro Jahr 100 „Preispunkte“, die sie als 5, 10, 20 oder 50 Punkte verteilen konnten, wenn ihnen besonders von jemandem geholfen wurde. Und wer am Jahresende am meisten Punkte hatte, bekam einen Bonus, eine Urlaubsreise, was auch immer. Das hat funktioniert.

herCAREER: Oft wird gesagt, Mitarbeiter:innen verlassen keine Unternehmen, sondern ihre Führungskräfte – inwieweit stimmt das?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Das stimmt häufig, aber nicht immer. Menschen verlassen unter bestimmten Bedingungen durchaus auch Unternehmen, selbst wenn sie mit ihrer Führungskraft super klarkommen. Vielleicht gab es im Team Probleme, vielleicht gibt es ein besser passendes Stellenprofil, vielleicht will die Lebensgefährtin umziehen.

herCAREER: In Ihrem Buch geht es viel um schwer messbare Begriffe wie Vertrauen, Demut und Reflexion. Wie geht die Forschung damit um?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Es gibt gut validierte Fragenbögen aus der Organisationspsychologie, die sich als Standardmetrik weltweit durchgesetzt haben. Wenn man die in einer genügend hohen Fallzahl auswertet, kann man solche psychologischen Konstrukte messen. Sie messen zum Beispiel Resilienz, die Tendenz zum Burnout oder Präsentismus.

herCAREER: Was ist Präsentismus?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Präsentismus am Arbeitsplatz ist z.B., wenn die Leute krank sind, aber trotzdem kommen. Das kenne ich von VW. Wer kommt montags als Erster und wer macht freitags als Letzter das Licht aus? Das ergibt manchmal eine Kultur des Imponierens.

herCAREER: Führen Sie selbst demütig?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Ich versuche es.

herCAREER: Wie geht das?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Das müssen eigentlich andere beurteilen, aber ich bin ganz offen: Ich muss niemandem mehr etwas beweisen. Ich war 25 Jahre Hochschullehrer an verschiedenen Universitäten. Mir fällt es aktuell leicht, weil ich ein super Team habe. In Fachzeitschriften kommt es oft sehr darauf an, wie die Autorenreihenfolge ist. Dann sage ich auch mal: Setzt mich ans Ende. Das hätte ich als junger Professor nie gemacht, das ist dann auch eine Altersfrage. Ich habe es inzwischen leicht, ich arbeite nicht in einem toxischen Umfeld und für mich gibt es auch keinen Aufstieg mehr.

herCAREER: Ist es nicht naiv, zu denken, dass man mit einer demütigen Haltung an Positionen kommt, in denen einflussreiche Entscheidungen getroffen werden?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Es mag Organisationen und Unternehmen geben, in denen eine demütige Haltung naiv erscheint. Von ihnen würde ich mich aber so weit wie möglich fernhalten.

herCAREER: Sie denken also, man sollte sich seinen Job nicht nur nach der Bezahlung und dem Stellenprofil aussuchen?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Genau, es kommt immer auch auf „weiche“ Faktoren wie Firmenkultur, Wertschätzung und gute Kommunikation an. Ich habe mal einen Fragebogen für Bewerber entwickelt, der zum Ziel hatte, die Unternehmenskultur zu erfassen. Die kann an vielen Punkten erkannt werden: Gibt es ein riesiges Büro für den Chef und viele kleine „Löcher“ für die Mitarbeiter? Was sind Mission und Zweck des Unternehmens? Kann sich jeder anziehen, wie er will, oder ist die Kleidung ein Code für soziale Differenzen? Wenn ich Kultur-Assessments mache, frage ich die Mitarbeitenden am Ende: “Sagen Sie, arbeiten Sie eigentlich gerne hier?” Das bringt die meisten total raus. Aber diese Frage fasst alles Wichtige zusammen.

herCAREER: Haben Sie den Eindruck, dass sich in Sachen demütiger Führung die Dinge insgesamt zum Positiven wenden?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Das fällt mir schwer zu beantworten. Natürlich könnte ich sagen, ja, das wird alles ein bisschen sozialer und familienfreundlicher. Ich kenne aber so viele Unternehmen, vor allem aus dem Mittelstand, da ist das Gegenteil der Fall.

herCAREER: Zum Beispiel?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Ein Schulfreund von mir war 25 Jahre Geschäftsführer bei einem Braunschweiger Mittelständler. Und jetzt ist der Sohn des Inhabers mit seinem Studium fertig. Das Gespräch, in dem sie den Geschäftsführer, eben meinen Schulfreund, rausgeschmissen haben, dauerte etwa 90 Sekunden. Das war hart. Der Charakter der Führungsriege färbt immer ab auf die Firmenkultur.

herCAREER: Denken Sie, dass ein Talent zum Führen angeboren, erlernbar oder beides ist?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Beides. Es gibt bestimmt 10.000 Forschungsartikel dazu. Es gibt gewiss so etwas wie ein angeborenes Charisma, aber Charisma ist eine ambivalente Sache. Es gibt vorbildliche Charismatiker – Martin Luther King z.B.  –, aber wir kennen auch charismatische Verbrecher – Adolf Hitler oder Stalin. Es gibt ein fast systematisches Bias in Einstellungsrunden, die guten Selbstdarsteller werden lieber eingestellt als die Normalos, die oft etwas zweifelnder oder vorsichtiger auftreten. Wenn ich Unternehmen berate, sage ich, schaut bitte auch hinter die Fassade. Ist das nur ein strahlendes Image oder ist das ein in sich ruhender, stabiler Mitarbeiter, wenn in zwei Jahren mal die ersten Tiefschläge kommen? Oft als langweilig empfundene Bedenkenträger („Ethiker“) überstehen in der Regel kein hartes Assessment. Zweifel und berechtigte Vorsicht werden leider oft als „Anschlag“ auf die Firmenziele oder die visionäre Kraft der Manager und Firmenlenker verstanden. Versuchen Sie mal, Donald Trump von einer Idee abzubringen.

herCAREER: Wie lernt man, demütig zu führen?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Einschneidende Erlebnisse transformieren Menschen, das kann eine schwere Erkrankung sein, der man entkommen ist. Bodo Janssen, der Eigentümer einer Hotelkette in Norddeutschland, hat einen komplett neuen Führungsstil für sein Unternehmen entwickelt. Er war ursprünglich ein Lebemann auf St. Pauli, der das Geld seiner Familie verprasst hat. Er wurde gekidnappt von einem serbischen Clan, der ihm unter anderem die Pistole an den Kopf hielt; später stürzte sein Vater mit dem Flugzeug ab. Diese Geschichte hat Bodo Janssen in diversen Büchern und Podcasts selbst erzählt.

herCAREER: Das ist schrecklich – aber nicht jede, die gut führen will, kann sich kidnappen lassen. Wie geht es denn sonst noch?

Prof. Dr. Dietrich von der Oelsnitz: Wenn ich das wüsste, wäre ich steinreich und hätte eine eigene Unternehmensberatung. Aber ernsthaft: Ich glaube, das muss aus den Menschen selbst kommen, da existieren vermutlich hunderte Wege, wie man zu sich selbst finden, seinen eigentlichen Persönlichkeitskern finden und entwickeln kann. In meinem Buch habe ich 22 Fragen zur Selbstreflexion verfasst, etwa: Haben Sie ein Problem damit, von unterstellten Personen Ratschläge anzunehmen? Wer sind Ihre Ratgeber? Interessiert Sie, wer Ihre Produkte kauft? Oder die Meinung Ihrer Beschäftigten über Sie? Der erste Schritt ist die Selbstreflexion. Dann kommt der Rest.

Das Interview führte Julia Hägele.

Über die Person

Univ.-Professor Dr. Dietrich von der Oelsnitz hat Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftspsychologie an der Technischen Universität Braunschweig sowie der Georg-August-Universität Göttingen studiert. 1993 folgte die Promotion, 1999 die Habilitation. Heute leitet er das Institut für Unternehmensführung und Organisation an der Technischen Universität Braunschweig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Strategisches Management, Business-Kooperation (Unternehmensallianzen und Teams) sowie Leadership. Daneben ist er als Berater tätig, vor allem in der Automobilindustrie sowie im Dienstleistungsbereich. Sein neues Buch „De/MUT“ befasst sich mit den aktuellen Veränderungen unserer Arbeitswelt und einem sich daraufhin ergebenden „neuen“ Führungsethos.

Am 20. Juli 2023 ist Dietrich von der Oelsnitz zu Gast in der herCAREER Academy. In seinem Online-Vortrag fragt er, wie es gelingen kann, im renditeorientierten Business mehr Mensch zu bleiben.