Hatice Koca ist Intensivkrankenschwester und ihr Job gehört zu den härtesten überhaupt: Er ist anstrengend, kostet oft Überwindung und es geht immer um Leben und Tod. Aber sie liebt ihre Aufgabe. So sehr, dass sie mit ihrem Buch "In besten Händen" einen Liebesbrief an den Pflegeberuf verfasst hat. Was sie wütend macht: Das System lässt sie und ihre Kolleg:innen im Stich. Warum sie die Arbeit trotzdem als Privileg betrachtet und was sie sich von Patient:innen, Verwaltung und Politik wünscht, erzählt sie im Interview.
„An den Tod gewöhnt man sich bis zu einem gewissen Grad, und das ist meiner Meinung nach auch notwendig, denn der gehört zum Job."
herCAREER: Hatice, für wen hast du das Buch geschrieben?
Hatice Koca: Es ist ein Buch für alle. Denn es ist vor allem ein Liebesbrief an die Pflege. Ich wollte zeigen, warum sich Menschen für diesen Beruf entscheiden, und ich freue mich, wenn es Leute bestärkt, die mit dem Gedanken spielen, in die Pflege zu gehen. Und wenn es zukünftigen Patient:innen und ihren Angehörigen eine neue Perspektive und mehr Verständnis für unsere Arbeit eröffnet. Natürlich ist auch Kritik drin, denn es gibt einiges zu kritisieren.
herCAREER: Lass uns teilhaben: Wie sieht ein ruhiger Tag auf der Intensivstation aus?
Hatice Koca: Ein ruhiger Tag ist für uns, wenn nur drei oder vier unserer sieben Betten belegt sind. Das ist entspannt, denn es heißt, man gewährleistet eine 1:1-Pflege. Man hat Zeit zum Essen und für Gespräche mit den Kolleg:innen. Die 12,5-Stunden-Schicht (in Österreich arbeiten wir in zwei, nicht in drei Schichten wie in Deutschland) vergeht schnell und man hat genug Energie übrig, um später noch etwas zu unternehmen.
herCAREER: Im Vergleich dazu: Wie sieht das aus, was du „Intensiv-Chaos" nennst?
Hatice Koca: Dann ist die Station mit sieben Patient:innen voll belegt. Ich habe dann vielleicht zwei Patient:innen zu betreuen, von denen einer instabil wird. Vielleicht hat er Symptome, die eine spontane CT-Fahrt erforderlich machen. Mit einem Intensivpatienten ins CT (Computertomografie) zu fahren, ist sehr aufwändig: Ich nehme die Beatmung, die lebenswichtigen Medikamente und einen Notfallrucksack mit. Ich bin für alle Eventualitäten gerüstet und habe die vielen Kabel fachgerecht abmontiert. Im CT fällt dann vielleicht der Medikamentenperfusor aus. Das sind Automaten, die kontinuierlich blutdruckerhaltende Medikamente verabreichen, und die haben eine Akkulaufzeit. Diese fallen meist genau dann aus, wenn man sich im CT befindet.
herCAREER: Natürlich …
Hatice Koca: Dann muss eine:r von uns zurück auf die Station oder jemand von der Station zum CT und wieder zurück rennen. Währenddessen hat man sich die zweite Patientin noch nicht einmal angeschaut. Es ist schon 11 Uhr und vielleicht liegt sie noch in den eigenen Exkrementen. Das Bett muss gereinigt und sie gewaschen werden, die Medikamente müssen verabreicht werden. Im schlimmsten Fall wird die zweite Patientin auch instabil. Im günstigsten Fall kann sie extubiert werden, was wiederum einen enormen Pflegeaufwand bedeutet. Denn das ist nicht wie in "Grey's Anatomy": Eine Extubation ist unangenehm. Es wird viel gehustet, es kommt viel Schleim heraus, es stinkt und der Mensch ist noch verwirrt von den ganzen Medikamenten.
herCAREER: Es heißt: „Man gewöhnt sich an alles." Ist das aus deiner Sicht auch so?
Hatice Koca: An den Tod gewöhnt man sich bis zu einem gewissen Grad, und das ist meiner Meinung nach auch notwendig, denn der gehört zum Job. Sonst ist man schneller im Burnout, als man denkt. Aber ich glaube, es gibt Dinge, an die man sich nicht gewöhnen kann und auch nicht gewöhnen sollte. In der Pflege gibt es eine Art Wettbewerb: Je abgestumpfter du bist, desto cooler bist du. Aber ich habe schon früh beschlossen, dass ich an diesem Wettbewerb nicht teilnehmen möchte. Ich finde, man sollte nie gleichgültig werden. Beim Thema Ekel bemerke ich sogar das Gegenteil. Je länger ich diesen Job mache, desto empfindlicher werde ich.
herCAREER: Du bist also durchlässiger geworden und dennoch entscheidest du dich, weiterzumachen. Wie und warum?
Hatice Koca: Man findet Lösungen, schmiert sich Minzöl unter die Maske, wenn es stinkt, und schaut weg, wenn es geht. Und ich konzentriere mich aufs große Ganze. Ich habe eine Ausbildung genossen, die mir außergewöhnliche Fähigkeiten vermittelt hat. Nicht jede:r kann bettlägerige Menschen waschen. Dafür sind wichtige Fertigkeiten erforderlich. Nicht jeder Mensch hat das Privileg, dabei zu sein, wenn jemand extubiert wird. Oder wenn jemand ruhig und schmerzfrei sterben darf. Das sind schöne Momente. Ich habe die Fähigkeiten und die Charakterstärke, Menschen zu helfen, die auf Hilfe angewiesen sind. Wenn ich mir dafür auch mal einen Ruck geben muss, dann gehört das eben dazu.
herCAREER: An einer Stelle im Buch beschreibst du den teils morbiden Humor unter Kolleg:innen als eine Art Psychohygiene – ein wenig Abgrenzung, ein wenig Gemeinschaft. Bekommt ihr auch psychologische Unterstützung seitens des Krankenhauses?
Hatice Koca: Wir haben Anspruch auf Supervision mit einer/einem Arbeitspsycholog:in, aber die muss aktiv eingefordert werden. Niemand hat uns bisher vorgeschlagen: „Lass uns eine Supervision machen, weil wir in diesem High-Demand-Job arbeiten." Und es ist immer noch ein Tabu unter Pflegekräften, Schwäche zu zeigen. Die alte Garde hat noch 47-Stunden-Schichten geschoben, war nie krank und nimmt selten Urlaub. Wir hatten dagegen letztens zwei Praktikantinnen der Generation Z bei uns, die eine Reanimation miterlebt haben. Danach war für uns „business as usual" und sie waren schockiert. Sie dachten, das verdiene eine Verschnaufpause und müsse doch aufgearbeitet werden. Mit den kommenden Generationen wird sich die Haltung ändern.
herCAREER: Im Pflegebereich arbeiten viele Frauen und viele Menschen mit Migrationsgeschichte. Wie erlebst du Frauen- und "Fremden"feindlichkeit in deinem Alltag?
Hatice Koca: Sicher gibt es viele, die mich aufgrund meines Kopftuchs und der damit verbundenen Assoziationen ablehnen. Das spüre ich auch manchmal. Auf der Intensivstation sind die Patient:innen allerdings in einem extremen Abhängigkeitsverhältnis zu mir, weshalb sie sich nicht trauen, zu deutlich zu werden. Deshalb bin ich Anfeindungen seitens der Patient:innen selten ausgesetzt – ich habe ich mir diese Station auch aus diesem Grund bewusst ausgesucht. Wenn ich ehrlich bin, habe ich während meiner Ausbildung mehr Rassismus von Kolleg:innen erfahren als von Patient:innen.
herCAREER: Im Kontext Diversity und Akzeptanz: Werdet ihr im Umgang mit non-binären und trans Personen geschult und für ihre Bedürfnisse sensibilisiert?
Hatice Koca: Ich wurde im Arbeitskontext nie dahingehend geschult und habe das auch noch nie von anderen gehört. Während meines Masters hatte ich allerdings das Fach „Diversity in Gender". Dort haben wir über biologische und psychosoziale Geschlechter sowie Gender gesprochen. Und das ist wichtig. Es beginnt mit pragmatischen Fragen: Wo liegt eine trans Frau – in einem Männer- oder einem Frauenzimmer? Auf der Gynäkologie? Wie fühlen sich die Menschen, die mit ihr ein Zimmer teilen? Im Krankenhaus spiegelt sich die Gesellschaft, und es gibt hier noch viele Fragen zu lösen.
herCAREER: Welchen Prozess, welche Strukturen würdest du im Krankenhaus oder auf der Station ändern, wenn du könntest?
Hatice Koca: Weil es in meinem Fall gerade relevant ist: Ich würde die Lücken ausgleichen, die durch die Schwangerschaft und Elternschaft von mir als Pflegerin (mit 30 Wochenstunden) entstehen. Derzeit wird meine Stelle nicht nachbesetzt und die Arbeit muss vom Team ausgeglichen werden. Aber was passiert, wenn mehrere Kräfte gleichzeitig schwanger werden? Das System zeigt die Stelle als besetzt an, also wird nichts zum Ausgleich unternommen. Ich finde das fragwürdig, weil meine Karenz nicht vom Arbeitgeber, sondern vom staatlichen Familien-Lasten-Ausgleichsfonds bezahlt wird.
herCAREER: Das bedeutet doch, dass seitens des Arbeitgebers Ressourcen vorhanden wären, um eine Vertretung einzustellen?
Hatice Koca: Ja. Hinzu kommt das Problem, dass mir nicht einmal garantiert ist, auf dieselbe Station zurückzukehren – obwohl meine Stelle nie zwischenbesetzt wurde. Das ist Schikane, die zu Lasten des Teams veranstaltet wird.
herCAREER: Du schreibst in deinem Buch: „Als Pflegepersonen arbeiten wir in einem kollabierenden System. Überall zeichnen sich Probleme ab, die wir kompensieren müssen." Meinst du damit euch als Individuen?
Hatice Koca: Ja. Nehmen wir das Ressourcenmanagement: Man könnte sich vorstellen, dass man eine Station besucht, die Pflegekräfte dort begleitet und feststellt, welche Arbeiten sie ausführen und wie viel Zeit dafür notwendig ist. Auf einer Normalstation könnte das heißen: Eine Pflegekraft benötigt etwa 23 Minuten für eine:n eingeschränkt mobile:n, aber halbwegs selbstständige:n Patient:in. Was aber stattdessen passiert: Es wird geschaut, wie viel Geld für wie viel Personal da ist. Daraus wird ein Personalschlüssel festgelegt und berechnet, wie viel Zeit das Personal pro Patient:in maximal verwenden darf. Und dann wird dir gesagt, du darfst nur fünf Minuten pro Patient:in brauchen. Das ist unrealistisch und unmenschlich. So werden Pflegekräfte krank und ein Nachwuchsproblem entsteht.
herCAREER: Wie beurteilst du die Ausbildung in deinem Berufsfeld?
Hatice Koca: Wir haben einen Notstand geschaffen. Jahrelang wurden keine Gesundheits- und Krankenpflegelehrer:innen ausgebildet und das System wurde völlig akademisiert. Jetzt stehen wir hier und versuchen, Leute für einen Master zu begeistern, der 13.000 Euro kostet. Das ist eine hohe Investition im Vergleich zum Gehalt, das am Ende gezahlt wird, und zum Ansehen, das der Beruf in der Bevölkerung genießt. Ein hoher Preis, um ein System am Leben zu erhalten, das im Begriff ist zu kollabieren. Wie soll das mittel- und langfristig funktionieren?
herCAREER: Du beschreibst ein fehlerhaftes System, aber beobachtest auch, dass es überlastet ist, weil die Menschen zu wenig Gesundheitskompetenz haben. Was meinst du damit?
Hatice Koca: Vielleicht vorweg: Sowohl das deutsche als auch das österreichische Gesundheitssystem sind darauf spezialisiert, akute Fälle zu behandeln. Und das ist auch gut und richtig, greift aber zu kurz. Fakt ist, dass 80 Prozent der Fälle, die in ein Krankenhaus kommen, auf chronische Erkrankungen zurückzuführen sind. Daran müsste man das System doch anpassen, oder nicht? Man kann nicht immer Geld in die Akutmedizin fließen lassen, während die mobile Hauskrankenpflege auf der Strecke bleibt und die niedergelassene Ärzteschaft unterbesetzt und unterfinanziert ist.
herCAREER: Was ist das Resultat?
Hatice Koca: Unsere Notaufnahmen sind auch deshalb zu voll, weil Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz bei 39 Grad Fieber in die Notaufnahme gehen, anstelle zunächst eine Paracetamol zu nehmen. Die USA und die skandinavischen Länder fangen solche Patient:innen mit „Urgent Care" auf, einer Vorstufe der Notaufnahme. Die Notaufnahmen hierzulande sind völlig überlastet und darum werden viele Menschen ohne Behandlung nach Hause geschickt. So entstehen dann wieder Notfälle.
herCAREER: Gesundheitskompetenz bedeutet aber auch, gar nicht erst (schwer) krank zu werden. Müssten wir nicht Prävention betreiben, statt später zu behandeln?
Hatice Koca: Richtig. Ernährung, Bewegung – wie lebe ich gesund? Meiner Meinung nach fehlt die Primärversorgung: Schulkrankenschwestern, die Kinder und Jugendliche aufklären. Das Wissen, dass Antibiotika nicht bei viralen Infekten helfen. Wie entsteht Bluthochdruck, wie wirkt er und was kann ich dagegen tun? Dieses Wissen und mehr Eigenverantwortung würden Herzinfarkten und Schlaganfällen vorbeugen. Eine gute Schulung im Umgang mit einer Autoimmunkrankheit kann schweren Schüben vorbeugen. Wäre die Bevölkerung kompetenter in der Prävention, könnten wir Krankenhäuser und Notaufnahmen entlasten.
herCAREER: Was ist dein Appell an junge Menschen oder Quereinsteiger:innen, die mit dem Gedanken spielen, in die Pflege zu gehen?
Hatice Koca: Macht es! Die Pflege ist extrem vielfältig, und es gibt für jede:n den richtigen Platz. Intensivmedizin und Notfallmedizin sind richtig aufregend. Langzeitpflege kann sehr bereichernd sein und Hauskrankenpflege lässt sich oft gut mit einem Familienleben kombinieren. Der Beruf ist Handwerk, aber verlangt auch viel Köpfchen: Ihr werdet nicht nur fachlich, sondern auch menschlich wachsen.
herCAREER: Was wünschst du dir von Menschen, die irgendwann einmal auf einer Intensivstation landen werden?
Hatice Koca: Ein einfaches Bitte und Danke machen einen großen Unterschied für uns. Wir sind keine Bediensteten: Seid geduldig und offen – helft uns, euch zu helfen, indem ihr mit uns zusammenarbeitet.
herCAREER: Und final: Was forderst du von der Politik für ein besseres Gesundheitswesen?
Hatice Koca: Mehr Unterstützung! Auch dabei, ein besseres Image für unseren Beruf aufzubauen. Dazu gehören mehr Ausbildungsplätze und mehr Ausbildende. Dazu gehören staatliche Förderung, Richtlinien für angemessene Bezahlung und zum Beispiel auch eine faire Entlohnung für Fortbildungen. Und ganz wichtig: die nachhaltige Entlastung des Gesundheitssystems durch Prävention und Aufklärung.
Das Gespräch führte herCAREER Redakteurin Kristina Appel.
Über die Person
Hatice Koca ist die bekannteste österreichische Health-Influencerin. Auf TikTok zählt sie derzeit knapp 150.000 Follower:innen, denen sie im Channel @hatcetenekenemene mit unterhaltsamen kurzen Videos Gesundheitsthemen näherbringt. 2024 schloss sie ihr Studium der Gesundheits- und Krankenpflege in Wien ab und arbeitet seitdem als Pflegerin auf einer Intensivstation.
Am 9. Oktober 2025 wird Hatice Koca beim Podcast-MeetUp im Rahmen der herCAREER Expo über ihren Alltag als Intensivkrankenschwester sprechen. Das Interview wird von Vera Schneevoigt geführt, die ihren Vorstandsposten aufgegeben hat, um die Pflege ihrer Eltern und Schwiegereltern zu übernehmen.