Zusammensein ist gut für die Gesundheit. Und gut für die Demokratie. Aber wie finden wir in Zeiten des Individualismus wieder zueinander? Ronja von Wurmb-Seibel hat sich in ihrem neuen Buch „Zusammen“ gefragt, warum wir für ein gutes Leben Verbündete brauchen und wie wir sie finden. Im Gespräch mit Kristina Appel, Redakteurin bei herCAREER, spricht sie über Forschungsergebnisse und eigene Erfahrungen mit Einsamkeit und Gemeinschaft.
„Je häufiger wir uns mit allen Sinnen begegnen, desto verbundener fühlen wir uns”
herCAREER: Ronja, was gab den Anstoß für ein Buch über Verbundenheit?
Ronja von Wurmb-Seibel: Das Thema begleitet mich seit der Pandemie, als wir alle miterleben mussten, wie es sich anfühlt, wenn wir bestimmte Menschen nicht mehr sehen können. Ich habe mich an einen meiner Freunde in Afghanistan erinnert, wo ich 2013 und 2014 gelebt habe. Er hat einmal zu mir gesagt: „Dieses Gefühl der Entspannung, das ihr Europäer habt, wenn ihr mal für euch seid, das haben wir, wenn wir in Gesellschaft sind.“ Das hat mir zu denken gegeben. Hinzu kamen Studien, die belegen, dass Einsamkeit ein Risikofaktor für Radikalisierung nach rechts ist. Mir wurde klar: Das ist ein Thema, das uns als Gesellschaft angeht.
herCAREER: Was macht uns als Teile der Gesellschaft einsam?
Ronja von Wurmb-Seibel: Interessant ist, dass die Lebenssituation keine Rolle spielt: Menschen, die allein wohnen, können sich genauso einsam oder nicht einsam fühlen wie Menschen, die zum Beispiel in einer unglücklichen Partnerschaft leben oder ein stressiges Familienleben haben.
herCAREER: Was ist es dann?
Ronja von Wurmb-Seibel: Wir erleben immer weniger tägliche soziale Kontakte, wir werden zum Individualismus erzogen und wir erleben eine Auflösung herkömmlicher gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen, etwa der Kirche oder anderer Glaubensgemeinschaften. Das ist per se nichts Schlechtes, denn diese Einrichtungen haben Menschen häufig in ihrer Individualität eingeschränkt. Aber viele haben noch keinen Ersatz für diese Institutionen gefunden.
herCAREER: Wer ist besonders gefährdet, einsam zu werden?
Ronja von Wurmb-Seibel: Wie bei allen sozial Benachteiligten sind es die Angehörigen marginalisierter Gruppen, die besonders betroffen sind, also Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund, Kranke oder Menschen mit Behinderung. Auch Armut macht einsam. Darüber hinaus gibt es Phasen im Leben, in denen wir besonders gefährdet sind, beispielsweise nach dem Schulabschluss, wenn wir Eltern werden oder im Alter, wenn Freund:innen sterben oder krank werden. In diesen Zeiten fallen Bindungen weg und können nicht immer schnell ersetzt werden.
herCAREER: Eine von Greenpeace in Auftrag gegebene Studie hat ergeben, dass es einen Zusammenhang zwischen Wahlergebnissen für die A*D und mangelnder ÖPNV-Anbindung gibt. Es ist nicht die einzige Untersuchung, die belegt, dass Isolation empfänglich für rechtes Gedankengut macht.
Ronja von Wurmb-Seibel: Allein zu sein ist ein untypischer Zustand für uns Menschen, egal, ob wir intro- oder extrovertiert sind. Wir sind grundsätzlich soziale Wesen. Unsere Körper sind auf Verbundenheit gepolt. Wenn wir allein und einsam sind, dann schaltet unser Körper in einen Alarmmodus. Es ist eine Art Überlebensmodus, in dem es fast unmöglich ist, anderen Menschen zu vertrauen. Durch das mangelnde Vertrauen wirken wir unsympathischer, was es wiederum schwerer macht, andere Menschen kennenzulernen.
herCAREER: Ein Teufelskreis …
Ronja von Wurmb-Seibel: Genau davon profitieren rechte und rechtsradikale Strömungen, denn sie instrumentalisieren Angst und Misstrauen für ihre Zwecke.
herCAREER: Ein gemeinsames Feindbild kann eine sehr machtvolle Verbindung schaffen. Warum ist das trotzdem nicht konstruktiv?
Ronja von Wurmb-Seibel: Das machen Rechtsradikale sehr geschickt. Ein gemeinsamer Feind ist der einfachste Weg, Aufmerksamkeit zu erregen und neue Mitglieder zu gewinnen. Aber wenn du Teil einer Gruppe bist, die andere systematisch ausgrenzt, kannst du dich nie hundert Prozent sicher fühlen. Du weißt, dass du, wenn du widersprichst, eine andere Haltung entwickelst oder nicht mitziehst, sofort fallengelassen, vielleicht sogar angegriffen wirst. Solche Verbindungen erlauben keine Verletzlichkeit.
herCAREER: Was wäre konstruktiver?
Ronja von Wurmb-Seibel: Politisch oder gesellschaftlich betrachtet haben wir beim „Gegen-etwas-Sein“ keine Visionen. Ich kann beispielsweise gegen Atomwaffen sein. Aber was verändert das? Konstruktiver wäre es zu sagen: „Ich bin für Abrüstung.” Denn dann muss man sich konsequenterweise fragen, wie Abrüstung gelingen kann.
herCAREER: Wie beeinflussen Internet und Social Media unsere Einsamkeit? Sind Menschen einsamer, wenn sie mit ihrem Handy das gefilterte und scheinbar perfekte Leben anderer Menschen verfolgen?
Ronja von Wurmb-Seibel: Ich war überrascht, wie einig sich Forschende sind: Begegnungen und Kontakte im digitalen Raum bewirken nicht annähernd das Level an Verbundenheit, das wir bei analogen Treffen erleben. Weil wir nur maximal zwei unserer fünf Sinne benutzen. Wir können uns hören und sehen. Aber wir können uns nicht die Hand geben, einander nicht riechen und nicht gemeinsam Kaffee trinken. Wenn alle fünf Sinne angesprochen sind, stößt unser Körper mehr Glücksgefühle aus und Hormone, die unser Stresslevel senken und uns gesünder werden lassen. Die Unterschiede sind messbar! Je häufiger wir uns also mit allen Sinnen begegnen, desto verbundener fühlen wir uns.
herCAREER: So macht es Sinn, dass die wenigsten Leute auf sozialen Netzwerken noch Verbindung suchen, sondern vor allem Reichweite für das eigene Profil. Verlernen wir in dieser Hyperindividualisierung, uns über Gemeinschaft zu identifizieren?
Ronja von Wurmb-Seibel: Ja, es ist ein Paradox. Soziale Medien machen einsam, wenn man sie nutzt, um sich selbst zu präsentieren und zu vergleichen. Verbundenheit entsteht hingegen, wenn ich die sozialen Medien nutze, um etwas zu organisieren, Hilfe zu leisten und mich wirklich als Teil einer Community zu begreifen.
herCAREER: In deinem Buch schilderst du viele Momente, in denen Menschen analog und digital zusammengekommen sind, um sich gegenseitig zu unterstützen. Sei es beim Hoffest auf Distanz während der Pandemie, bei der Wohnungssuche von Freunden oder als ihr hunderte Menschen bei der Flucht aus Afghanistan unterstützt habt … Ist es nicht schade, dass wir vor allem in Extremsituationen füreinander da sind?
Ronja von Wurmb-Seibel: Ganz im Gegenteil, mich ermutigt das. Ich sehe es wie einen Kompass. Wie wir uns in Krisensituationen verhalten, zeigt ja, wie wir als Menschen im Kern sind: Wir wollen einander helfen, wir wollen zusammenhalten. Eine wichtige Frage ist dann aber: Wie können wir diesen Wesenskern im kapitalistischen Alltag wieder mehr beleben? Welche Räume und Gelegenheiten brauchen wir?
herCAREER: Je älter wir werden, desto schwieriger wird es für die meisten von uns, Freundschaften zu knüpfen. Hast du Tipps, wie dennoch gute Verbindungen gelingen können?
Ronja von Wurmb-Seibel: Mit vielen kleinen Schritten. Es muss nicht immer gleich die große Freundschaft sein. Wir fühlen uns schon verbundener, wenn wir eine andere Person anlächeln, oder sie uns. Oder wenn wir ein, zwei Sätze miteinander wechseln, zum Beispiel an der Supermarktkasse. In all diesen Fällen schüttet unser Körper stressreduzierende Hormone aus. Das heißt, mit einem Lächeln oder ein paar Worten Smalltalk können wir messbar unsere Gesundheit und sogar unsere Lebensdauer verbessern – ich finde das unglaublich. An Tagen, an denen ich eigentlich niemanden sehen will, hilft mir dieses Wissen, mich doch noch mal aufzuraffen.
herCAREER: Was ist der nächste Schritt nach einem Lächeln?
Ronja von Wurmb-Seibel: Der kann sich ganz von selbst entwickeln. Eine Leserin hat mir erzählt, wie sie in einem Wartezimmer mit einem Lächeln eine angeregte Unterhaltung zwischen allen Anwesenden angestiftet hat. Freundschaften sind dabei natürlich nicht entstanden, aber der Moment hat für alle den Tag verbessert. Und das wiederum verändert, wie wir durch die Welt gehen, und was in unserem Leben entsteht.
herCAREER: Introvertierte kann das überfordern. Und für weiblich gelesene oder queere Personen kann das in manchen Räumen sogar gefährlich sein …
Ronja von Wurmb-Seibel: Ja, das ist ein sehr konkretes Beispiel dafür, wie marginalisierte Personen stärker Gefahr laufen, isoliert zu werden. Wenn etwas so Einfaches wie ein Lächeln zu unangenehmen, sogar gefährlichen Situationen führen kann, ist es umso wichtiger, dass wir uns zusammentun, um Räume zu verändern und zu öffnen, sodass wir uns dort wohl und sicher fühlen können.
herCAREER: Neben Erwerbs- und Care-Arbeit bleibt oft nicht viel Zeit für Freundschaften. Viele Beziehungen schleichen sich so aus. Gibt es einen einfachen Weg, sie am Leben zu erhalten?
Ronja von Wurmb-Seibel: Ich habe eine Freundin, die jetzt 103 Jahre alt ist und mehr Freundschaften pflegt als alle anderen Menschen, die ich kenne. Als ich sie einmal fragte, wie sie das macht, sagte sie: Man muss sich bemerkbar machen. Also: nicht warten, bis sich jemand meldet, sondern selber den ersten Schritt gehen. Und sich wirklich zeigen, so wie wir sind!
herCAREER: Zusammengefasst: Einsamkeit bekämpfen kostet auch Mut?
Ronja von Wurmb-Seibel: Genau. Es braucht Mut. Die gute Nachricht ist: Mut ist wie ein Muskel. Je öfter wir mutig lächeln oder Fragen stellen, ohne negative Erfahrungen zu machen, desto leichter wird es, beim nächsten Mal wieder mutig zu sein.
herCAREER: Du schreibst im Buch, dass gemeinsames Tun noch mehr verbinden kann als Reden. Wie geht das?
Ronja von Wurmb-Seibel: Es ist völlig egal, ob es sich um Stricken, Singen, Bergsteigen oder Schwimmen handelt. Wenn wir Dinge tun, die wir gerne tun, geht es uns erstmal gut. In so einem Zustand fallen uns auch Begegnungen leichter. Aus Erfahrung kann ich sagen: Das funktioniert wirklich! Unser Körper schüttet übrigens doppelt so viele Glückshormone aus, wenn wir Dinge synchron tun. Zusammen joggen oder spazieren macht also nicht nur Spaß, sondern ist auch doppelt so gesund, als wenn wir alleine unterwegs sind.
herCAREER: Hat das Schreiben dieses Buches etwas in dir verändert? Fällt es dir heute leichter, Verbindungen einzugehen?
Ronja von Wurmb-Seibel: Ich habe das Buch in einer der besagten Risikozeiten geschrieben: in den Monaten um die Geburt meines Kindes. In der Zeit vor der Geburt habe ich mich intensiv gefragt: Was braucht es für ein gutes Leben? Und: Was will ich unserem Kind vorleben? Gutes Zusammensein gehört dazu. So ist das Buch auch für mich persönlich ein starker Kompass geworden. Und jetzt sehe ich jeden Tag bei unserem Kind, wie schnell wir andere Menschen kennenlernen, wenn wir sie einfach anstrahlen.
Das Interview führte herCAREER-Redakteurin Kristina Appel.
Über die Person
Ronja von Wurmb-Seibel ist mehrfach ausgezeichnete Journalistin, Autorin und Filmemacherin. Knapp zwei Jahre hat sie als Reporterin in Kabul gelebt und dort – umgeben von schlechten Nachrichten – gelernt, Geschichten so zu erzählen, dass sie Mut machen. Darüber hat sie mit »Wie wir die Welt sehen« einen Bestseller geschrieben. Inzwischen hat sie im bayerischen Dünzelbach gemeinsam mit ihrem Partner ein Gästehaus für Künstler:innen gegründet, in dem sie mal mit Kreativen zusammenlebt, mal mit Freiwilligen. »Zusammen« ist ihr drittes Buch.
Auf der diesjährigen herCAREER Expo wird Ronja von Wurmb-Seibel am 9. Oktober beim Authors-MeetUp ihr Buch „Zusammen“ vorstellen und darüber sprechen, warum wir für ein gutes Leben Verbündete brauchen und wie wir sie finden.