Agota Lavoyer ist Sozialarbeiterin und Expertin für sexualisierte Gewalt und Rape Culture. In der Einleitung zu ihrem aktuellen Buch „Jede_ Frau“ schreibt die Schweizer Autorin: „Sexualisierte Gewalt ist normalisiert, aber sexualisierte Gewalt ist alles andere als normal.“ Was wir als Kolleg:innen, Eltern und Freund:innen gegen Rape Culture tun können – und wo andere Kräfte aktiv werden müssen –, verrät sie im Interview mit herCAREER-Redakteurin Kristina Appel.

„Rape Culture […] und damit einhergehend das riesige Ausmaß sexualisierter Gewalt ist kein Frauenproblem, sondern eine gesellschaftliche Krise, eine Epidemie, die dringend angegangen werden muss.“

herCAREER: Sind wir als Gesellschaft durch die Normalisierung von Sexismus abgestumpft oder sind wir inhärent misogyn geprägt?

Agota Lavoyer: Ich glaube, das lässt sich kaum voneinander trennen. Sicher hat uns die sexistische Kultur, in der wir leben, tief geprägt. Gleichzeitig reproduzieren wir – egal, welches Geschlecht wir haben – Sexismus ständig: in der Populärkultur, im Freundeskreis und in der Familie. Schlussendlich basieren unsere wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen auf sexistischen Grundannahmen. Strukturen, die die Abhängigkeit von Frauen fördern und damit Männergewalt begünstigen.

herCAREER: Du beschreibst im Buch, dass sexualisierte Gewalt ein Kontinuum ist. Warum muss man das zunächst verstehen und verinnerlichen, bevor man etwas gegen Rape Culture unternehmen kann?

Agota Lavoyer: Führen wir uns die Gewaltpyramide vor Augen: Sie fußt auf einem breiten Nährboden aus allen Diskriminierungsformen, wie eben auch Sexismus und Queerfeindlichkeit. Solange auf dieser Basis Frauen und queere Menschen objektiviert oder sexistische Witze gerissen werden, bietet sie das Fundament für sexualisierte Gewalt: Das geht von Catcalling, dem Versenden ungewollter Dick Pics über Rachepornos bis hin zu sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Das Kontinuum ist auch der Grund, dass vermeintlich weniger schwerwiegende Belästigungen wie Catcalling schnell eskalieren können. Für jede Betroffene schwingt in Belästigungssituationen die Gefahr weiterer Demütigung und körperlicher Gewalt mit.

herCAREER: Die Präventions- und Aufklärungsarbeit muss also an der Basis ansetzen?

Agota Lavoyer: Genau, und das hat auch etwas Gutes, weil es bedeutet, dass wir alle jeden Tag etwas gegen Sexismus tun können. Gleichzeitig ist und bleibt Rape Culture ein strukturelles Problem, dem auch strukturell begegnet werden muss. Darum ist es auch die Aufgabe des Staates, mich davor zu schützen.

herCAREER: Wie meinst du das?

Agota Lavoyer: Oft höre ich: „Ich verletze keine Grenzen, ich würde nie vergewaltigen, ich kann nichts dafür, dass andere Männer das tun.” Und ich sage dann, dass jede*r von uns indirekt eine Vergewaltigung verhindern kann, indem wir uns aktiv anti-sexistisch verhalten, zum Beispiel sexistische Bemerkungen oder misogynes Verhalten direkt ansprechen und anprangern. Schweigen validiert diskriminierendes Verhalten.

herCAREER: In deinem Buch schreibst du, dass wir Frauen Angst anerziehen. Wie äußert sich diese Angst?

Agota Lavoyer: Zum Beispiel geben (junge) Frauen einem Mann lieber eine falsche Telefonnummer. Es fühlt sich sicherer an, zu lügen, als ihm ehrlich zu sagen: „Ich bin nicht interessiert.“

herCAREER: Frauen müssen mit Aggressionen rechnen, wenn sie Avancen abweisen. Mit diesem Bewusstsein und der Angst von Frauen wird Geld gemacht. Was bringen Selbstverteidigungsseminare, Pfefferspray und Rape-Alarme?

Agota Lavoyer: Diese sogenannte Prävention sexualisierter Gewalt wird seit Jahrzehnten praktiziert und wir sollten längst gemerkt haben, dass sie nicht funktioniert. Es ist logisch, dass sich das Ausmaß an Übergriffen dadurch nicht verringert, weil diese Präventionsmaßnahmen weder diejenigen adressieren, die die Gewalt ausüben, noch diejenigen, die Bystander sind und nicht intervenieren. Somit sind diese Maßnahmen nicht nur nutzlos, sondern auch noch eine schön verpackte, subtile Form der Täter-Opfer-Umkehr. Die Botschaft solcher – vielleicht sogar gut gemeinten – Ratschläge bleibt: „Frauen, schützt euch (und wenn ihr es nicht tut, seid ihr selbst schuld)!” Und nicht: „Männer, seid nicht übergriffig!”

herCAREER: Wenn Prävention an der Basis beginnt, dann auch mit den nächsten Generationen. Wie können Eltern Kindern vermitteln, dass Frauen, Männer und nicht-binäre Menschen gleichberechtigt sind?

Agota Lavoyer: Indem sie es vorleben. Ich sage gerade Männern und Vätern immer wieder, dass sie wichtige Vorbilder sind. Dabei genügt es nicht, bloß „nicht sexistisch“ zu sein. Was es braucht, sind Menschen, die aktiv anti-sexistisch handeln. Das heißt, sich bewusst und sichtbar gegen Sexismus und Misogynie einzusetzen – im Alltag, im Beruf, in der Familie und im Freundeskreis.

herCAREER: Und wie schütze ich Kinder vor einer Gesellschaft, in der die Machtverhältnisse noch nicht gleich sind und sexualisierte Gewalt eben „Jede_ Frau“ angeht?

Agota Lavoyer: Ich bin selbst Mutter von vier Kindern. Ich weiß, wie hilflos man sich als Eltern fühlen kann. Ich bemühe mich, Eltern zu verdeutlichen, dass sexualisierte Gewalt sehr verbreitet ist. Jedes siebte Kind wird sexuell ausgebeutet, so gut wie jede Frau und weiblich sozialisierte Person hat als Erwachsene in irgendeiner Form sexualisierte Gewalt erfahren. Das heißt: Wenn sie eine Tochter haben, wird sie vermutlich irgendwann sexualisierte Gewalt erfahren. Deshalb ist es elementar, Kinder über sexualisierte Gewalt aufzuklären und gleichzeitig auch mit ihnen über problematische Männlichkeitsvorstellungen zu sprechen. Das Problem mit den klassischen Ratschlägen ist: Wenn wir unseren Töchtern raten, sich nicht „freizügig“ zu kleiden, dann fühlen sie sich nach einer Belästigung nicht nur unwohl, sondern zudem schuldig. Unsere Söhne könnten wiederum verinnerlichen, dass ein freizügiges Kleid sie dazu berechtigt, zu belästigen.

herCAREER: Wie können Eltern es besser machen?

Agota Lavoyer: Ich rate Eltern, bei jedem Ratschlag zu hinterfragen, ob er ermutigend und stärkend für das Kind ist. Wenn eine Tochter hört: „Hey, niemand hat das Recht, dich zu belästigen oder dir hinterherzupfeifen, egal, wie du dich verhältst und was du anhast”, stärkt das hoffentlich ihr Selbstbewusstsein. Ein anderes Beispiel: Natürlich kann man Töchter vor K.-o.-Tropfen warnen und sie anregen, aufmerksam zu bleiben. Aber wäre es nicht besser, Jugendlichen grundsätzlich beizubringen: Sei aufmerksam! Wenn du bemerkst, dass ein Freund K.-o.-Tropfen googelt, sprich ihn darauf an. Wenn du merkst, dass er sexuelle Gewalt verharmlost oder Frauen sexualisiert – sprich ihn darauf an oder rede mit einem Erwachsenen darüber. Das wäre Prävention.

herCAREER: Wir müssen also alle mehr Eigenverantwortung für eine gewaltfreie Gesellschaft übernehmen?

Agota Lavoyer: Einerseits ja: Wir sind immer in den Bereichen für andere verantwortlich, wo wir selbst zu den Privilegierten gehören. Ich bin zum Beispiel eine sehr privilegierte Frau: Ich bin weiß, cis, ich komme aus der gehobenen Mittelschicht. Ich bin nicht in Armut aufgewachsen, habe keine Behinderung und ich bin normschön und normgewichtig. Für mich bedeutet das, dass ich dafür verantwortlich bin, mich gegen Rassismus, Dickenfeindlichkeit, Behindertenfeindlichkeit und Transfeindlichkeit einzusetzen. Warum? Weil es für mich einfacher und ungefährlicher ist als für die diskriminierten Personen.

herCAREER: Und andererseits?

Agota Lavoyer: Andererseits ist sexualisierte Gewalt kein privates oder individuelles Problem. Sexualisierte Gewalt und andere Diskriminierungen sind strukturelle Probleme, die auch auf struktureller Ebene gelöst werden müssen.

herCAREER: Heißt das auch, dass wir als Frauen noch mehr über Frauenfeindlichkeit und als trans Personen noch mehr über Transfeindlichkeit sprechen müssen?

Agota Lavoyer: Ich finde, keine Frau ist verpflichtet, einen Mann aufzuklären, und keine trans Person muss die emotional unheimlich anstrengende Arbeit übernehmen, Menschen über Transfeindlichkeit aufzuklären. Schließlich sind wir als weiblich sozialisierte Personen ja auch nicht aufgeklärt auf die Welt gekommen! Du und ich, wir haben uns das Wissen mühsam aneignen müssen und kämpfen nun jeden Tag gegen patriarchale Strukturen und misogyne Prägungen.

herCAREER: Da hast du recht …

Agota Lavoyer: Die Informationen sind schließlich vorhanden: Es gibt Bücher über Rape Culture aus den Siebzigerjahren, in denen nahezu dasselbe steht wie in den Büchern von heute. Die Informationen sind da, das Wissen ist da. Selbst wenn alle Frauen, non-binären und trans Personen nie mehr ihre Erfahrungen teilen würden, könnte trotzdem kein Mann sagen: „Woher soll ich das denn wissen?” Es war noch nie so einfach wie jetzt, sich ein Bewusstsein zu schaffen. Ich meine, frag doch einfach ChatGPT! Öffne Instagram und lass dir das Wissen leicht verdaulich servieren.

herCAREER: Du schreibst im Buch: „Wissen ist Macht.” Warum müssen wir alle über die Mechanismen von Rape Culture Bescheid wissen?

Agota Lavoyer: Damit wir sexualisierte Gewalt überhaupt erkennen können! Als Betroffene, als Individuen und als Gesellschaft müssen wir wissen, was sie ist, wie sie sich äußert und dass sie eben ein Kontinuum ist. Nehmen wir an, ein Mann spielt vor einem Kind mit seinem Penis. Er sagt, das sei ein lustiges Spiel – ein unaufgeklärtes Kind glaubt dem Mann vielleicht. In Wirklichkeit erfährt dieses Kind gerade sexuelle Gewalt; weil es das aber womöglich nicht weiß, wird es sich vielleicht auch niemandem anvertrauen.

herCAREER: Dasselbe gilt für Erwachsene.

Agota Lavoyer: Genau. Wenn ich nicht weiß, dass es sexuelle Belästigung ist, wenn mir ein Mann ungefragt ein Dick Pic schickt, werde ich ihn nicht zur Verantwortung ziehen. Wenn ich nichts über Misogynie, Rassismus, Klassismus und andere Formen der Diskriminierung weiß, kann ich ungleichen Machtverhältnissen auch nichts entgegensetzen. Darum betone ich im Buch, wie wichtig die Rolle der Sprache ist.

herCAREER: Was vermag Sprache in diesem Kontext?

Agota Lavoyer: Ein Beispiel: Lange gab es kein Wort für sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Der Begriff musste erschaffen werden, bevor das überhaupt als Problem wahrgenommen werden konnte. Man kann nicht gegen etwas vorgehen, das man nicht benennen kann. Dasselbe gilt für „Catcalling“, „Stalking” und “Upskirting”.

herCAREER: Sprache sorgt allerdings auch dafür, dass Rape Culture normalisiert wird. Gerade in den Medien reproduziert sie ständig patriarchale Gedanken. Wie kann so etwas aussehen?

Agota Lavoyer: Gerade haben große Schweizer Zeitungen geschrieben: „Zwei Männer wegen Sex mit 13-Jähriger vor Gericht.“ Es gibt keinen Sex mit 13-jährigen Mädchen! Das ist Vergewaltigung, das ist sexuelle Ausbeutung eines Kindes. Solche Titel führen dazu, dass Leser:innen unbewusst tendenziell die Tat verharmlosen, das Mädchen mitverantwortlich machen und die zwei Männer entschuldigen.

herCAREER: Viele Menschen nehmen sich im Netz die Zeit, solche Fehldarstellungen mit “I fixed it”-Beiträgen zu korrigieren. Aber wie, glaubst du, ließen sich solche Überschriften verhindern?

Agota Lavoyer: Das Problem ist: Wenn es einen Missbrauchsfall im Sport gibt, schreiben Sportjournalist:innen darüber. Sexuelle Belästigung bei einem Großkonzern wird von Wirtschaftsjournalist:innen besprochen. Lifestyle- oder Kulturjournalist:innen schreiben über sexualisierte Gewalt auf Konzerten. Ich höre immer wieder, dass Journalist:innen so viel wissen müssen und sich nicht in alles einarbeiten können. Das mag sein. Aber ich finde, es ist unerlässlich, dass Redaktionen eine Person beschäftigen, die sich gut mit diesem Thema auskennt und als Korrektiv wirken kann. Schlussendlich geht es darum, dass Journalist:innen mehr Wissen über geschlechtsspezifische Gewalt haben, damit sie sensibel darüber schreiben können, statt die Rape Culture zu reproduzieren. Medien haben hier eine große Verantwortung, die sie leider oft nicht wahrnehmen.

herCAREER: Wie können wir Rape Culture als Individuen und als Gesellschaft entlernen?

Agota Lavoyer: Es beginnt mit dem Wissen um die Gewalt-Pyramide, um zu verstehen, dass Männergewalt gegen Frauen nicht zufällig ist, sondern ein Merkmal des Patriarchats. Wir müssen dafür sorgen, dass Rape Culture und Misogynie nicht mehr auf einem so starken Fundament stehen. Wir müssen unseren Kolleg:innen vermitteln, dass sexistische Witze unangebracht sind und sie diese zu unterlassen haben. Wir müssen der Zeitung schreiben, wenn ihre Artikel Sexismus und Misogynie verharmlosen. Wir können uns politisch engagieren – jede und jeder nach den eigenen Möglichkeiten. Wir müssen auch ein Bewusstsein dafür entwickeln, wie vielschichtig sich fehlende Gleichstellung auswirkt: in Lohnungerechtigkeit genauso wie in Queerfeindlichkeit und Femiziden. Eines steht fest: Wir werden keine gewaltfreie Gesellschaft, solange wir nicht gleichgestellt sind.

herCAREER: Welche Wünsche hast du an die Politik?

Agota Lavoyer: Dass sie genau das versteht: Ohne Gleichstellung keine Gewaltfreiheit. Und die Umsetzung der Gleichstellung der Geschlechter ist eine staatliche Pflicht! Für diese Umsetzung braucht es allem voran Ressourcen – daran mangelt es überall. Beratungs- und Interventionsstellen haben zu wenig, Schutzeinrichtungen, die Täterarbeit, die Präventionsarbeit – alle haben zu wenig. Fehlende Ressourcen stehen immer für mangelnden politischen Willen. Rape Culture und damit einhergehend das riesige Ausmaß sexualisierter Gewalt ist kein Frauenproblem, sondern eine gesellschaftliche Krise, eine Epidemie, die dringend angegangen werden muss.

 Das Gespräch führte herCAREER Redakteurin Kristina Appel.

Über die Person

Agota Lavoyer, Jahrgang 1981, ist Sozialarbeiterin und Autorin und hat sich auf geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt spezialisiert. Als Beraterin und Leiterin von Opferhilfe-Beratungsstellen in Bern und Solothurn hat sie unzählige Betroffene sexualisierter Gewalt und deren Angehörige unterstützt und begleitet. Dabei erlebte sie hautnah mit, welche gravierenden Folgen die gesellschaftliche Verharmlosung sexualisierter Gewalt, die Stigmatisierung von Betroffenen und die häufige Entlastung der Täter hat.
Heute arbeitet Lavoyer als selbständige Beraterin, Referentin und politische Aktivistin und engagiert sich für einen gesellschaftspolitischen Wandel und für ein Umdenken, für eine bessere Unterstützung von Betroffenen sexualisierter Gewalt in der breiten Gesellschaft wie auch in der Justiz und für eine zeitgemäße Prävention sexualisierter Gewalt. Sie lehrt an verschiedenen Fachhochschulen und Universitäten, bietet in Unternehmen, Organisationen und bei den Strafverfolgungsbehörden Weiterbildungen an, begleitet als Expertin Projekte und arbeitet als externe Vertrauensstelle bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.
Durch zahlreiche Interviews in Zeitungen, Radio und Fernsehen ist Agota Lavoyer in der Schweiz einem breiten Publikum bekannt geworden. Darüber hinaus gilt sie als Möglichmacherin der Schweizer Sexualstrafrechtsrevision im Jahr 2023. In den letzten Jahren hat sie drei Standardwerke zu diesen Themen veröffentlicht: Das Kinderfachbuch «Ist das okay?» zur Prävention sexualisierter Gewalt an Kindern, «Jede_ Frau» und zuletzt «Ermutigt.», ein Handbuch für Betroffene von sexualisierter Gewalt.

Auf der diesjährigen herCAREER Expo im Münchener MOC wird Agota Lavoyer am 9. Oktober beim Authors-MeetUp mit Kristina Appel über ihr Buch „Jede_ Frau. Über eine Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt verharmlost und normalisiert” sprechen.