Wie fühlt es sich an, Mutter in Deutschland zu sein? In ihrer Anthologie „Rethinking Motherhood“ lässt die Autorin und Journalistin Anne Theiss Frauen mit unterschiedlichsten Lebensentwürfen ihre Geschichten erzählen: Geschichten von Überlastung, Isolation und dem Kampf um Anerkennung. Im Gespräch mit der herCAREER-Redakteurin Kristina Appel zeigt sich: Das System lässt zu viele Mütter im Stich. Mutterschaft ist vielfältig und braucht nicht nur neue Perspektiven, sondern auch politische Rahmenbedingungen.
„Nicht die Vollzeitarbeit ist das Problem, sondern die mangelnde, faire Aufteilung.“
herCAREER: Liebe Anne, dein Buch „Rethinking Motherhood“ vereint 18 prominente und andere wichtige Stimmen: Was hast du in den Gesprächen mit deinen Protagonistinnen über Mutterschaft in Deutschland herausgefunden?
Anne Theiss: Unabhängig von der politischen Richtung und vom Familienmodell kommen alle Beitragenden auf einen gemeinsamen Nenner, den wir anpacken sollten, um Mutterschaft neu zu denken: die mangelnde Gleichberechtigung. Nicht ohne Grund, denn das deutsche System priorisiert und subventioniert auch im 21. Jahrhundert noch vor allem die (auch kinderlose) Ehe und Teilzeit-Arbeit von Müttern, andere Familienmodelle wie Alleinerziehende, soziale Elternschaft, homosexuelle Beziehungen mit Kind oder pflegende Eltern bekommen weniger politische Aufmerksamkeit und Förderung.
herCAREER: Als Norm gilt ein in Vollzeit berufstätiger Mann und eine Mutter, die ein oder mehrere Kinder zur Welt bringt, mit der Geburt ihre Erwerbsarbeitszeit reduziert oder den Job ganz aufgibt, um sich dann viele Jahre lang um die Kinder zu kümmern und dem Mann den Rücken freizuhalten. Richtig?
Anne Theiss: Ja, der berufstätige Mann kümmert sich vor allem finanziell um die nicht oder nur in Teilzeit erwerbstätige Frau und seine Kinder. Das ist bei uns immer noch Standard. Das Problem ist jedoch, dass uns dadurch nicht nur Potenzial für die Wirtschaft verloren geht, sondern auch Frauen nach einer Trennung Probleme haben, ihren Lebensstandard zu halten, geschweige denn fürs Alter vorzusorgen. Darum sagt die Rechtsanwältin Sandra Runge in dem Buch, dass Gesetze dahingehend geprüft werden müssen, wie sie Familien und Gemeinschaften, in denen Kinder großgezogen werden und Sorgearbeit geleistet wird, wirklich fördern. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern haben wir in Deutschland in Sachen Gleichberechtigung noch einiges zu tun.
herCAREER: Unser System priorisiert die Ehe zwischen Mann und Frau – und dennoch benachteiligen die politischen Strukturen nicht nur Mütter, sondern auch Ehefrauen. Der sogenannte „Marriage Earnings Gap” besagt, dass sich das Einkommen berufstätiger Frauen in den ersten fünf bis sechs Jahren der Ehe um bis zu 20 Prozent reduziert – und das unabhängig davon, ob sie Kinder haben. Mit Kindern verstärkt sich dieser Effekt bis hin zur Altersarmut. Wie erlebst du diese Diskrepanz?
Anne Theiss: Das ist spannend, oder? Wenn deine Ehe endet und du alleinerziehende Mutter bist, wirst du in Deutschland mit einem der fünf höchsten Steuersätze (im europäischen Vergleich) konfrontiert. Das bedeutet: Solange du in einer Ehe Kinder hast, bist du versorgt, wirst belohnt. Wenn diese Ehe jedoch endet, bist du durch deine längere Abwesenheit vom Arbeitsmarkt mit geringerem Einkommen, höchstwahrscheinlich mangelnder Altersvorsorge und weniger attraktiven Steuersätzen konfrontiert. In den meisten Fällen leben wir hier in Deutschland also noch nach einer Norm, die ein großes Risiko für Frauen darstellt und sie „bestraft“, wenn sie diese Norm verlassen. Das spüren sie übrigens auch überproportional häufig durch sozialen Druck, wenn sie entscheiden, das Risiko zu mindern und frühzeitig nach der Geburt ihrer Kinder wieder Vollzeit zu arbeiten.
herCAREER: Glaubst du, wir haben diese strukturellen Probleme, weil die meisten Politiker:innen, die Einfluss auf diese Regelungen haben, Männer sind?
Anne Theiss: Ja. Und weil ebenso Frauen mitmischen, die vom bisherigen System profitieren und sich dadurch schwertun, die Bedürfnisse in anderen Modellen zu sehen oder das eigene zu hinterfragen.
herCAREER: Siehst du in dem neuen Koalitionsvertrag Verbesserungen?
Anne Theiss: Ich bin leider nicht sehr optimistisch. Ich befürchte, dass wir weiterhin viele Enttäuschungen erleben werden, denn der Vertrag wurde aus einer sehr privilegierten Perspektive verfasst. Es ist zwar einmal wieder von einem Anheben der Qualitätsstandards in der Kinderbetreuung, Sprachförderung und Fachkräftegewinnung die Rede. Hoffen wir auf die Umsetzung und produktive Ideen. Ich erkenne aber keine Maßnahmen, die das Potenzial der Mütter am Arbeitsmarkt konkret und schnell heben würden. Allerdings kann ich mir vorstellen – da es Frau Bas schon sehr früh nach der Regierungsbildung angesprochen hat –, dass der Wirtschaftsfaktor „berufstätige Mutter” von der neuen Regierung wahrgenommen wird.
herCAREER: Lass uns über Mütter sprechen, für die das System gleich mehrere Hürden darstellt. Esther und Delia aus deinem Buch sind zum Beispiel alleinerziehende Mütter. Sie sagen, sie würden als Mütter zweiter Klasse behandelt. Müssten nicht gerade diejenigen, die alles alleine stemmen, bevorzugt behandelt werden?
Anne Theiss: Das wäre logisch, nicht wahr? Und wir tun es nicht. Ich finde es beschämend, wie wir mit Menschen umgehen, die Kinder allein großziehen. Wir sind ein Land, das auf sein Humankapital angewiesen ist. Wie kann es sein, dass wir exzellent ausgebildeten Frauen wie Esther und Delia hier nicht den roten Teppich ausrollen? Das passt überhaupt nicht zu den Reden über Fortschritt, Wohlstand und den Wirtschaftsstandort Deutschland, die vor allem jetzt wieder von den Vertreter:innen der konservativen Regierungspartei geschwungen werden. Gerade für Alleinerziehende sind Finanzen und eine gute Betreuungsinfrastruktur ein zentrales Thema. Doch der staatliche Unterhaltsvorschuss, der immer noch bei einem Viertel v.a. der Väter nicht zurückgefordert werden „kann“, ermutigt Ex-Partner nicht gerade, ihrer Unterhaltspflicht nachzukommen.
herCAREER: Inwiefern?
Anne Theiss: Der Staat springt ein, wenn ein Elternteil keinen, nur unregelmäßig oder zu wenig Unterhalt leistet. Dieses Versäumnis vor allem der Väter wird als Kavaliersdelikt behandelt und das Geld kommt von mindestens einem Viertel von ihnen nicht zurück in die Staatskasse. Das sind jährlich Hunderte Millionen von Euro. Auch das erstaunt mich: Wir Bürger:innen werden doch bei anderen Delikten auch gefunden oder zur Rechenschaft gezogen. Glücklicherweise verändert sich zumindest in immer größeren Teilen die Haltung der Väter, denn viele wollen bewusst eine größere Rolle im Leben ihrer Kinder spielen. Aber das heißt nicht, dass der Fall von Delia, den sie im Buch beschreibt, schon eine Ausnahme ist …
herCAREER: Deine Protagonistin Simone Brugger ist wie du Mutter eines Kindes mit Behinderung. Sie beschreibt ihre Überlastung im Buch sehr anschaulich. Wie und wo lässt das System pflegende Mütter im Stich?
Anne Theiss: In Simones Fall wird die starke Isolation deutlich. Als pflegende Mutter hat man schnell keinen Anschluss mehr. Simone beschreibt, wie sie sich mit dem Physiotherapeuten ihres Kindes angefreundet hat; auch ich bin mit den vielen Therapeuten meiner Tochter befreundet. Warum? Weil ich lange keinen Anschluss über die Kita hatte, da zu viele Einrichtungen mein Kind nicht aufnehmen wollten.
herCAREER: Wie hast du die Belastung durch Berufstätigkeit, Care-Arbeit und Pflege erlebt?
Anne Theiss: Diese Mehrfachdiskriminierung kommt schleichend. Erst bekommst du keinen Kita-Platz. Das verhindert im Grunde deine Berufstätigkeit. Dann spiegelt dir dein Umfeld wider, dass es besser wäre, wenn du die Pflege als Mutter selbst übernimmst. Ich wollte unbedingt weiterarbeiten und habe es allein meinem Chef zu verdanken, dass ich berufstätig geblieben bin. Er kannte mich und hat gesagt: „Du brauchst das!” Für Simone war es zum Beispiel lange nicht möglich zu arbeiten. Vor Kurzem hat sie mir jedoch erzählt, dass sie auf einer Lesung zu unserem Buch einen Job angeboten und bekommen hat. So eine Nachricht macht mich glücklicher als jede Verkaufszahl.
herCAREER: Was frustriert dich am Thema mütterliche Pflege von Kindern besonders?
Anne Theiss: Die Scheinheiligkeit. Wir diskutieren ständig über Leistungsträger:innen und wollen das Bürgergeld „anpassen”. Wir führen einen Diskurs über Migrant:innen und Geflüchtete, die angeblich nicht arbeiten wollen. Mütter, die dringend arbeiten möchten, aber besondere Herausforderungen wie Kinder mit Behinderungen haben, fördern wir jedoch nicht. Sie bleiben durch Normen isolierter als Mütter in anderen, fortschrittlicheren Ländern bezüglich Inklusion.
herCAREER: Woran könnte das liegen?
Anne Theiss: Politik, aber auch große Teile der Gesellschaft wollen die Inklusion nur bedingt, nur solange sie nicht stört. Meiner Meinung nach sollte es aber eine Frage des Menschenbildes sein und auch, wie man selbst später einmal mit altersbedingten Behinderungen behandelt werden möchte. Für ein Land wie Deutschland, drittstärkste Volkswirtschaft der Welt, mit gewisser Historie ist der Stand der Inklusion kein Aushängeschild. Es ist geradezu peinlich, dass wir so viel erreichen und schaffen, aber bei der Integration von Menschen, insbesondere Kinder mit Behinderungen, krachend scheitern.
herCAREER: Du arbeitest seit wenigen Monaten wieder in Vollzeit. Wie läuft es mit zwei Kindern?
Anne Theiss: Mir sind zwei Dinge aufgefallen: Erstens haben gefühlt 90 Prozent der Menschen in meinem Umfeld diese Entscheidung hinterfragt …
herCAREER: Dagegen hat das schwule Paar Alex und Graeme aus deinem Buch andere Erfahrungen gemacht. Als Graeme, der zunächst die Rolle des Care-Gebenden übernommen hatte, wieder in Vollzeit arbeiten ging, wurde das nicht ein einziges Mal in Frage gestellt.
Anne Theiss: Was für eine Bestätigung unserer Wahrnehmung, oder? Ich kämpfe mich noch zu häufig durch Lesungen und muss bei Fragen aus dem Publikum jede Menge Studien zitieren, damit mir geglaubt wird. Und er beschreibt in wenigen Worten, dass es genauso ist: Frauen werden anders bewertet.
herCAREER: Was hat die Vollzeittätigkeit noch für dich verändert?
Anne Theiss: Als ich noch in Teilzeit gearbeitet habe, habe ich 80 bis 90 Prozent der Sorgearbeit übernommen und bin regelmäßig an meine Belastungsgrenze gekommen. Jetzt teilen wir uns als Eltern die Care-Arbeit zu gleichen Teilen auf und meine Belastungsgrenze ist auf einmal in weite Ferne gerückt. Nicht die Vollzeitarbeit ist das Problem, sondern die mangelnde faire Aufteilung.
herCAREER: Du warst schon vor dieser Erfahrung eine Verfechterin von Müttern in Vollzeitbeschäftigung. Warum?
Anne Theiss: Mehr Arbeitszeit für Mütter bedeutet mehr Gehalt, mehr Chancen, mehr Teilnahme an wichtigen technologischen Entwicklungen und eine höhere Rente. Dafür brauchen wir eine bessere Betreuungsinfrastruktur, mehr Solidarität unter den Generationen, weniger Normen und sozialen Druck und eine paritätische Aufteilung der Sorgearbeit.
herCAREER: Was hast du bei deiner Rückkehr erlebt?
Anne Theiss: Ich habe so viel verpasst! Ich war eineinhalb Jahre freiberuflich tätig. Als ich vor Kurzem in eine Anstellung zurückkehrte, hat mir eine ältere Kollegin erklärt, wie Prompten funktioniert. Ich habe die Einführung von KI in den Berufsalltag größtenteils verpasst. Mütter und Frauen, die ihre eigenen beruflichen Ziele (zu) lange zurückstellen, müssen sich bewusst sein, wie viel sie verpassen könnten – und wie sich das auf ihre Chancen auswirkt.
herCAREER: Wenn wir den Buchtitel „Rethinking Motherhood” aufgreifen: Welche Umstände verhindern, dass wir Mutterschaft anders denken und mit Leben füllen?
Anne Theiss: Ich bin überzeugt, dass die Corona-Pandemie uns hier stark ausgebremst hat. Es gibt Studien, die besagen, dass selbst progressive Männer in den Pandemiejahren ihre Meinung revidiert haben und seitdem die traditionelle Rollenaufteilung wieder mehr schätzen. Wenn ich das erzähle, geschieht ab und an auch Kurioses: Kürzlich wurde mir auf einer Lesung von einer älteren Frau vorgeworfen, wir jungen Frauen hätten während der Pandemie die Chance versäumt, unsere Männer zu erziehen. In diesem Moment war ich kurz sprachlos: Warum ist es meine Aufgabe, meinen Mann zu erziehen? Das ist eine totale Verlagerung der Verantwortung auf die Schultern der Frauen.
herCAREER: Was haben die Männer im Buch dazu gesagt?
Anne Theiss: Tilman Prüfer meint, dass die Männer, die für mehr Zeit mit ihren Kindern streiten – aus eigenem Interesse –, die wahren Helden sind. Auch Martin Speer und Vincent-Immanuel Herr betonen in ihrem Kapitel, dass es vor allem Ängste sind, die Männer davon abhalten, Elternzeit zu nehmen und ihre fürsorgliche Seite auszuleben. Sie haben Angst, belächelt und benachteiligt zu werden. Diesen Druck gilt es aufzulösen.
herCAREER: Wo könnten wir ansetzen, um das Narrativ zu verändern?
Anne Theiss: Wenn sich die Narrative über Vater- und Mutterrollen so hartnäckig halten, wäre es ein Anfang, hier politische Maßnahmen zu ergreifen. Das tut Deutschland aber nicht. Man könnte beispielsweise das Elterngeld an eine längere Elternzeit der Väter koppeln. Man könnte das Ehegattensplitting abschaffen. Man könnte die Infrastruktur durch mehr Kitas verbessern, sodass ich als Mutter – egal, ob ich alleinerziehend bin oder nicht – arbeiten gehen und für den Lebensunterhalt meines Kindes sorgen kann.
herCAREER: Die Konsequenz ist, dass sich immer mehr Frauen gegen die Ehe und gegen Kinder entscheiden.
Anne Theiss: Genau! Mein Buchtitel „Rethinking Motherhood” ist auch eine Anlehnung an #RegrettingMotherhood. Es gibt eine Studie, die besagt, dass Frauen weniger Kinder bekommen, als sie eigentlich möchten, weil sie sicher sind, dass Kinder ihre Entscheidungsfreiheit einschränken würden. Und das zu Recht.
herCAREER: Dein erstes Buch heißt „Die Abwertung der Mütter“. Fühlst du dich nach dem zweiten Buch bei diesem Begriff der Abwertung bestätigt oder bist du ein wenig versöhnt?
Anne Theiss: Leider immer noch, ja. Der Titel entsprach damals wie heute den Zahlen und den Begebenheiten. Und auch manche emotionale Reaktion darauf bestärkt mich; warum reagieren manche Menschen so, wenn Mütter in einen wirtschaftspolitischen Kontext gesetzt werden? Warum haben wir bei so vielen Themen kein Problem mit Negativismus, warum wird er bei einer Bestandsaufnahme der Lage von Müttern als Problem angesehen? Wie ich im ersten Buch schreibe: Ich würde gerne positiv über die Lage von Müttern schreiben, wenn sie es erlauben würde.
Um jedoch noch mit etwas Positivem zu enden: Die Arbeit an beiden Büchern hat dazu geführt, dass ich mich von vielen Glaubenssätzen befreien konnte, denen ich unbewusst gefolgt bin. Ich bin heute freier und fühle mich gleichzeitig wohler in meiner Mutterrolle. Ich kann nur jeder Mutter, jedem Vater empfehlen, sich schonungslos mit der eigenen Rolle auseinanderzusetzen. Langfristig bedeutet das einen echten Gewinn. Für alle.
Das Gespräch führte herCAREER Redakteurin Kristina Appel.
Über die Person
Anne Theiss, geboren 1984 in Aalen, auch bekannt als „Schwäbisch-Sibirien“, studierte Politische Wissenschaft mit den Nebenfächern VWL und Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ab 2011 absolvierte sie die Burda Journalistenschule und arbeitete unter anderem für BUNTE.de und FOCUS. Sie war lange persönliche Referentin von Hubert Burda.
2015 kam ihre Tochter mit dem seltenen Phelan-McDermid-Syndrom zur Welt. 2022 folgte ein Sohn. Im September 2023 erschien ihr Buch „Die Abwertung der Mütter – wie überholte Familienpolitik uns den Wohlstand kostet“ bei Droemer Knaur. Im März 2025 erschien die Anthologie „Rethinking Motherhood“.
Auf der diesjährigen herCAREER Expo am 9. Oktober 2025 im Münchener MOC wird Anne Theiss beim Authors-MeetUp mit zwei ihrer Protagonistinnen aus “Rethinking Motherhood” über ihre Erfahrungen als Mütter sprechen.