„Modeerscheinung" oder „Erfindung der Pharmaindustrie" – das sind nur zwei der gängigen Vorurteile gegenüber der Aufmerksamkeitsstörung AD(H)S. Wie komplex, individuell und vielschichtig die Diagnose und Erkrankung tatsächlich sind, weiß Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz, Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie. Mit herCAREER spricht sie über die wichtige Rolle einer fachärztlichen Diagnose und die Erfahrungen, die viele Frauen machen, bis sie diese erhalten.
„Viele kommen zu uns und sagen, sie hätten eine Demenz – dabei sind sie eigentlich durch ihre AD(H)S-Symptome ausgebrannt."
herCAREER: AD(H)S ist eine sogenannte Neurodivergenz. Divergenz beschreibt eine Abweichung von der Norm. Manche framen sie als Superkraft. Sie verwenden immer wieder den Begriff „neurologische Besonderheit". Wie ist AD(H)S zu betrachten?
Dr. Astrid Neuy-Lobkowisz: AD(H)S ist eine Spektrumerkrankung. Das bedeutet, es gibt sie in der Normvariante, mit der die Betroffenen gut zurechtkommen können, aber auch als schwere Erkrankung. AD(H)S-Betroffene haben andere Stärken- und Schwächen-Profile als neurotypische Menschen. Ich arbeite ressourcenorientiert und spreche deshalb gerne über die positiven Eigenschaften: Die Menschen sind kreativer, oft intuitiv und mutig. Ich sage immer: Jede Firma braucht AD(H)Sler:innen, nur nicht zu viele.
herCAREER: Die Vielfalt macht also den Unterschied?
Dr. Astrid Neuy-Lobkowisz: Genau. Im Sinne der Menschheitsentwicklung ist Neurodiversität sinnvoll. Wir ticken unterschiedlich und bringen individuelle Stärken mit, die uns in verschiedenen Situationen einsatzfähig machen.
herCAREER: Wenn auch neurologische Unterschiede wichtig und richtig sind: Warum ist es für Betroffene entscheidend, eine offizielle Diagnose zu erhalten? Was ändert sich durch dieses Wissen?
Dr. Astrid Neuy-Lobkowisz: Oft hilft es bei der Selbstakzeptanz. Mit AD(H)S tickt man anders. Man nimmt Informationen anders auf, verarbeitet sie anders, reagiert anders. Menschen mit AD(H)S haben ein anderes Tempo, sind oft hypersensitiv und können sich schlecht organisieren. Sie sind auch leicht ablenkbar und haben Probleme damit, Arbeiten rechtzeitig anzufangen. Mit der Diagnose können sie ihre Stärken erkennen, annehmen und zielgerichtete Strategien für ihre Schwächen entwickeln. Eine Diagnose gibt auch dem Umfeld eine „Gebrauchsanweisung" – sei es für Partner:innen, Kolleg:innen oder Führungskräfte. Diese Aufklärung, die wir Psychoedukation nennen, hat einen hohen Stellenwert in der Entwicklung von Menschen mit AD(H)S. Sie können Scham- und Schuldgefühle über das gefühlte eigene Versagen ablegen. Wenn sie beispielsweise schlecht im Großraumbüro arbeiten, schnell abgelenkt sind oder oft prokrastinieren, wird mit der Diagnose klar, dass sie nicht etwa faul oder unfähig sind, sondern dass der Botenstoff Dopamin bei ihnen zu schnell abgebaut wird.
herCAREER: Warum wird AD(H)S bei Frauen so viel seltener und so viel später im Leben diagnostiziert als bei Männern?
Dr. Astrid Neuy-Lobkowisz: Das liegt unter anderem daran, dass Frauen häufiger den "unaufmerksamen" Typ ADS haben und somit unauffälliger sind. Mädchen, die in der Schule schüchtern, träumerisch oder still sind, fallen eben weniger auf als Jungs, die laut und ungestüm sind und nicht stillsitzen können. Außerdem haben Mädchen und Frauen ein größeres Interesse daran, prosoziales Verhalten zu zeigen. Sie möchten weder auffallen noch zugeben, dass sie langsam oder leicht ablenkbar sind. Sie strengen sich sehr an, damit niemand ihre Probleme bemerkt, und arbeiten oft heimlich, um ihr Arbeitspensum zu schaffen. Hinzu kommt, dass die zur Diagnostik genutzten Fragebögen auf hyperaktive Jungs ausgelegt sind. Wenn Mädchen dann noch intelligent sind und durch ihr Elternhaus gut gefördert werden, arbeiten sie fleißig und machen oft ein gutes Abitur. Dadurch fallen sie durchs Raster und erhalten, wenn überhaupt, erst im Erwachsenenalter eine Diagnose.
herCAREER: In Forschung und Medizin heißt es oft, Frauen seien aufgrund ihres Zyklus so kompliziert. Wie wirken sich Menstruation, Schwangerschaft oder Pubertät auf AD(H)Slerinnen aus?
Dr. Astrid Neuy-Lobkowisz: AD(H)S geht mit einer höheren Vulnerabilität einher. So können selbst kleine hormonelle Veränderungen eine enorme Auswirkung auf AD(H)S-Betroffene haben: PMS (Prämenstruelles Syndrom) kommt häufiger vor, das Klimakterium verläuft schwieriger. Die Rate depressiver Phasen während der Pubertät und Schwangerschaft, genauso wie die Rate postpartaler Depressionen, ist höher.
herCAREER: Nehmen wir an, ich stelle als erwachsene Frau bei mir Unaufmerksamkeit, Ablenkbarkeit und Antriebsschwäche fest. Woher weiß ich, dass ich nicht einfach hypersensibel bin – oder dass mein Brain Fog kein Anzeichen der Perimenopause ist?
Dr. Astrid Neuy-Lobkowisz: Tatsächlich diagnostizieren wir bei einem Teil der gut adaptierten, hochfunktionalen AD(H)S-Frauen die Neurodivergenz erst in der (Peri-)Menopause. Das liegt daran, dass die Östrogen- und Gestagenwerte dann abfallen und sich die Beschwerden dadurch verschlimmern können. Ich arbeite derzeit an einem Buch mit, das sich dem Thema AD(H)S in der zweiten Lebenshälfte widmet. Die Rate von Erschöpfung und Vergesslichkeit ist so hoch, dass viele zu uns kommen und sagen, sie hätten eine Demenz, dabei sind sie eigentlich durch ihre AD(H)S-Symptome ausgebrannt.
herCAREER: Was bedeutet das für Betroffene? Wie bekommen sie Klärung und gegebenenfalls eine Diagnose?
Dr. Astrid Neuy-Lobkowisz: Man kommt mit AD(H)S auf die Welt. Darum muss für eine Diagnose die Symptomatik im Laufe des Lebens dargestellt werden. Frauen, insbesondere intelligente, werden durch die Standardtests nicht erfasst. Wir sehen viele Frauen, die lange erfolgreich kompensieren konnten, weil sie viel Potenzial mitbringen und in einem zu ihnen passenden Aufgabengebiet arbeiten. Also nicht als Buchhalterin oder Sachbearbeiterin, sondern beispielsweise als Ersthelferin oder als Journalistin, wo viel Abwechslung herrscht. Für eine offizielle AD(H)S-Diagnose muss man zu Fachleuten gehen, die sich gut auskennen und genau nachfragen. Welche Symptome sind schon vorher aufgetreten? Beispielsweise, dass man sich nie gut organisieren konnte, vieles auf den letzten Drücker erledigt und Aufgaben nicht zu Ende führt. Oder dass man schon immer vergesslich war und eine kurze Konzentrationsspanne hatte. Neigt man zu Stimmungsschwankungen und ist schnell gekränkt?
herCAREER: Was bedeutet das für Frauen, die glauben, betroffen zu sein? Müssen sie sich auf eine intensive Suche nach gut geschulten Expert:innen gefasst machen?
Dr. Astrid Neuy-Lobkowisz: Ja, und es ist sehr schwierig, jemanden zu finden. Im ADHS-Zentrum München haben wir etwa 50 Anmeldungen am Tag, die wir nicht bewältigen können, weil es zu wenig Spezialist:innen gibt. In einer AD(H)S-Ambulanz an der Uniklinik gerät man oft an unerfahrene Assistenzärzt:innen, und da fallen Frauen wieder durchs Raster, weil ihre Zeugnisse meist keine Auffälligkeiten zeigen. Zudem wurden die standardisierten Tests für Jungen und Männer mit ADHS entwickelt.
herCAREER: Welche Folgen kann das für die Lebensqualität der betroffenen Frauen haben?
Dr. Astrid Neuy-Lobkowisz: AD(H)S geht sehr häufig mit Begleiterkrankungen einher. Am häufigsten sind Depressionen oder Angststörungen. 50 Prozent aller weiblichen Betroffenen entwickeln eine solche im Laufe des Lebens – was natürlich auch der Symptomatik geschuldet ist. Wir sehen eine höhere Rate von Suchterkrankungen, aber auch eine ganze Menge psychosomatischer Erkrankungen, die häufiger sind: Dazu zählen chronische Schmerzen, Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes und Essstörungen. Eine neue Studie aus England besagt, dass die Lebenserwartung von Frauen mit unbehandeltem AD(H)S um bis zu 9 Jahre geringer ist. Oft würden sie unter einer Medikation nicht nur psychisch, sondern auch bei somatischen Erkrankungen eine deutliche Besserung erfahren, da sie unter einer richtig eingestellten Medikation weniger Stress haben.
herCAREER: Das heißt, wenn Menschen von einem Trend und Hype um AD(H)S sprechen …
Dr. Astrid Neuy-Lobkowisz: Dann werde ich ärgerlich. AD(H)S ist eine neurobiologische Erkrankung, die im ICD (International Statistical Classification of Diseases) als international klassifizierte Krankheit aufgeführt ist. Wenn jemand AD(H)S für eine Trenddiagnose oder „Gedöns" hält, ist das Fortbildungsverweigerung. Es herrscht die Annahme, dass Psychotherapie allen helfen kann, doch das stimmt in diesem Fall nicht. AD(H)S ist die einzige psychiatrische Erkrankung, die nicht zuerst psychotherapeutisch, sondern medikamentös behandelt wird, weil es sich um ein neurobiologisches Problem handelt. Das Dopamin wird zu schnell abgebaut und muss daher erhöht werden. Zur Erinnerung: AD(H)S entsteht nicht in der Kindheit, auch nicht durch einen Konflikt. Im ICD-11, der aktuellsten Version der amtlichen Klassifikation, wird die Erkrankung als neurogene Entwicklungsstörung bewertet. Das heißt, sie ist weder eine Trenderscheinung, noch ist sie veränderbar! Und gleichzeitig sage ich immer wieder: Es ist das dankbarste Krankheitsbild in der Psychiatrie, weil die wichtige Diagnose, die richtige Aufklärung und die richtige Medikation für ADHS-Betroffene schnell enorm hilfreich sind.
herCAREER: Wie meinen Sie das?
Dr. Astrid Neuy-Lobkowisz: Bei keinem anderen psychiatrischen Krankheitsbild können die Fachleute Patient:innen schneller helfen, als wenn sie eine richtige AD(H)S-Diagnose stellen und die Betroffenen leitliniengerecht medikamentös behandeln. Einige stehen auf wie Phönix aus der Asche. Eine Verhaltenstherapie kann im Alltag unterstützend wirken, aber tiefenpsychologische Therapien und vor allem Psychoanalyse sind bei AD(H)S kontraindiziert.
Das Gespräch führte herCAREER Redakteurin Kristina Appel.
Über die Person
Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie und Mitglied im Vorstand des Bundesverband ADHS-Deutschland. Nach dem Studium der Humanmedizin in Mainz und Heidelberg folgte die Facharztausbildung am Zentralinstitut für seelische Gesundheit an der Uniklinik Mannheim. Sie ist Mitbegründerin des seit 2007 bestehenden ADHS-Zentrums München. Seit 1988 ist sie niedergelassene Fachärztin in eigener Praxis in Aschaffenburg und seit 2007 betreibt sie zusätzlich eine Privatpraxis in München mit Schwerpunkt auf AD(H)S bei Erwachsenen. Als Expertin mit 25-jähriger Erfahrung zum Thema AD(H)S tritt Dr. med. Neuy-Lobkowicz immer wieder in den Medien auf. Sie hat zahlreiche Artikel und Bücher veröffentlicht und ist Dozentin für Fach*ärztinnen und Psychotherapeut*innen zu diesem Thema.
Am 9. Oktober 2025 wird Dr. Astrid Neuy-Lobkowisz beim Podcast-MeetUp auf der herCAREER Expo auf konkrete Herausforderungen und pragmatische Lösungsansätze für AD(H)Sler:innen in Berufs- und Privatleben eingehen. Sie beantwortet auch Fragen aus dem Publikum.