Ihr Podcast HerStory entstand als Experiment zu Beginn der Pandemie, heute würdigt er unzählige Frauen und queere Personen, die zwar Geschichte schrieben, aber nicht zwingend in Geschichtsbüchern zu finden sind. Im Gespräch erzählt Jasmin Lörchner, warum die Geschichtsschreibung so viele Frauen geschluckt hat, und warum es gerade für frei Arbeitende wie sie so wichtig ist, zu fragen: Wo endet Leidenschaft und wo beginnt Selbstausbeutung?

„Wenn Frauen an misogynen Standards gemessen werden, wird das auch beeinflussen, wie an sie erinnert wird.“

herCAREER: Jasmin, welche ist die am meisten unterschätzte Frau der Geschichte?

Lörchner: Oha! Es gibt so viele, die unbekannt sind. Für meinen Podcast HerStory habe ich gerade eine Folge über die Mathematikerin Emmy Noether aufgenommen, die Beiträge zur Abstrakten Algebra und zur Theoretischen Physik lieferte. Genauso könnten wir auch über Elisabeth Selbert sprechen und ihren Beitrag zur Verankerung der Gleichberechtigung im deutschen Grundgesetz.

herCAREER: Wie kam es zu Deinem Podcast HerStory?

Lörchner: Ich bin Geschichtsjournalistin – und ich habe “Rechercheritis”. Das heißt, ich recherchiere sehr viel zu den Themen, über die ich schreibe. Bei vielen Recherchen tauchen bislang unbekannte Namen von Frauen auf, ich habe schon über 400 gesammelt. Dann kam die Pandemie und als Freiberuflerin fragte ich mich wie viele meiner Kolleg:innen: Was passiert jetzt eigentlich mit meiner Auftragslage? Ich hatte mich schon länger mit dem Medium Audio beschäftigen wollen und habe dann einfach die Chance ergriffen, das endlich umzusetzen. Das habe ich dann mit meinem Herzensthema zusammengebracht, die Geschichte marginalisierter Personen zu erzählen.

herCAREER: Welches Ziel hat Dein Podcast?

Lörchner: Als ich anfing und den Namen auswählte, war klar: Der Podcast soll Frauen aus der Geschichte sichtbar machen. Ziemlich schnell ist mir klar geworden, dass Frauen nicht die einzige marginalisierte Gruppe in der Geschichtsschreibung sind, sondern auch queere Personen. Deshalb erzähle ich auch ihre Geschichten. Inhaltlich möchte ich globalgeschichtlich unterwegs sein, soweit mich Sprachbarrieren nicht komplett ausbremsen. Zudem will ich epochenübergreifend erzählen. Und ganz wichtig ist mir, nicht allein Held:innengeschichten Raum zu geben, sondern auch komplexe Persönlichkeiten zu beleuchten.

herCAREER: Wieso hat die Geschichtsschreibung so viele Frauen geschluckt?

Lörchner: Man muss sich nur fragen, wer die Chroniken und Geschichtsbücher geschrieben hat. Das waren überwiegend Männer, die meist über andere Männer schrieben, nämlich über Päpste, Könige und so weiter. In Geschichtsbüchern lesen wir nur von Frauen, die mit den Konventionen ihrer Zeit in Konflikt kamen – wie etwa Jeanne d’Arc, die heute eine französische Nationalheilige ist. Eine andere Rolle spielt, wer Zugang zu Bildung hatte. Im Mittelalter haben Frauen in einer Klosterumgebung Bildung erfahren, deswegen kennen wir heute Frauen wie Hildegard von Bingen. Die Arbeiterinnen und Bauersfrauen konnten in den meisten Fällen nicht mal lesen und schreiben. Letzen Endes hatten überwiegend die Männer den Stift in der Hand und das hat Einfluss darauf, an wen wir uns heute erinnern.

herCAREER: Welche Deiner Podcast-Folgen hat besonders eingeschlagen?

Lörchner: Elisabeth Selbert ist tatsächlich ein Renner, was natürlich auch damit zusammenhängt, dass es die erste Folge ist und viele Leute Podcasts chronologisch hören. Eine andere erfolgreiche Folge war eine Zeitreise ins Paris der 1920er Jahre.

herCAREER: Wird Deiner Meinung nach heutzutage genug dafür sensibilisiert, wie Geschichte geschrieben wird?

Lörchner: Ich habe Geschichte im Nebenfach studiert und kann mich nicht erinnern, dass darüber gesprochen wurde. Ich möchte keinesfalls einem meiner früheren Profs auf die Füße treten, falls mir da etwas entfallen sein sollte. Man spricht natürlich über den Umgang mit Quellen und lernt, dass Verfasser von Chroniken auch immer eine Agenda haben. Königliche Chronisten werden sicherlich nicht die Situation der weiblichen Landbevölkerung thematisieren. Ich denke, es wäre bereits in der Schule sinnvoll, Geschichte vielfältiger zu erzählen. Sonst denken die Schüler:innen, dass es scheinbar keine nennenswerten Frauen gegeben hat.

herCAREER: Welche Frau aus der Gegenwart läuft Gefahr, von der Geschichtsschreibung geschluckt zu werden?

Lörchner: Mir fällt auf, dass Frauen, vor allem Politikerinnen, mit anderen Maßstäben gemessen werden als Männer – etwa Außenministerin Annalena Baerbock. Wenn Frauen an misogynen Standards gemessen werden, wird das auch beeinflussen, wie an sie erinnert wird.

herCAREER: Deinen Abschluss machtest Du zum Thema innerdeutscher RAF-Terrorismus – hast Du hier auch schon den Fokus auf Frauen gelegt?

Lörchner: Damals eher noch nicht. Obwohl mich unter anderem Ulrike Meinhof, also die Journalistin, die in den Terrorismus abrutscht, umgetrieben hat. Ich glaube, ich muss dem Thema mal eine Folge widmen.

herCAREER: Monetarisiert sich Dein Podcast oder machst Du ihn primär aus Leidenschaft?

Lörchner: In erster Linie ist es Leidenschaft, aber ich biete auch ein freiwilliges Mitgliedsmodell über Steady an. Denn auch in Leidenschaft steckt man viel Arbeit und Zeit, deswegen hoffe ich, dass meine Arbeit durch das freiwillige Bezahlmodell von Steady ein Stück weit honoriert wird. Was ich nicht möchte, ist, Inhalte hinter Bezahlschranken zu verstecken. Und ich habe mich entschieden werbefrei zu bleiben, um mir absolute Unabhängigkeit zu bewahren. Mir ist es wichtig, dass dieses Thema die Aufmerksamkeit und die Sichtbarkeit bekommt.

herCAREER: Das ist vorbildlich, klingt aber nach viel Arbeit.

Lörchner: Ich bin ganz ehrlich: Ich habe einen Vollzeitjob und mache meinen Podcast obendrauf, abends und am Wochenende. Und das geht, weil es meine derzeitige Lebensphase erlaubt, ich “nur” einen Hund habe. Für Projekte dieser Art lohnt es sich zu fragen: Wo hört die Leidenschaft auf, wo fängt die Selbstausbeutung an? Mir liegt die Sichtbarkeit von Frauengeschichte und queerer Geschichte so am Herzen, dass ich die Zeit momentan sehr gern investiere. Aber wenn ich – warum auch immer – weniger Freiheiten hätte, könnte ich das nicht machen. Ich sage das so offen, weil uns Frauen eingeimpft wurde, dass wir alles gleichzeitig können sollen und dabei am besten auch noch aussehen wie aus dem Ei gepellt. Das funktioniert aber nicht.

herCAREER: Ein Buch zum Thema hast Du auch geschrieben, es heißt “Nicht nur Heldinnen”. Was hat es mit diesem Titel auf sich?

Lörchner: Man kann leicht in die Falle tappen, in dem Bestreben, Frauen und queere Personen sichtbarer zu machen, nur die Geschichten zu erzählen, die man richtig anfeuern kann. Damit würden wir Geschichte aber wieder eindimensional erzählen. Wir können nicht so tun, als wären Frauen und queere Personen die besseren Akteurinnen der Geschichtsschreibung. Mir geht es um eine realistische Geschichtsvermittlung – und das heißt, auch die komplexen Figuren zu beleuchten und Schwächen mitzuerzählen.

herCAREER: Welche Frau aus dem Buch ist besonders streitbar?

Lörchner: Das könnte vielleicht Njinga aus dem heutigen Angola sein. Vor einigen Jahren gab es in Berlin eine hitzige Diskussion um sie. Zum einen hat sie sich in ihrem Land im 17. Jahrhundert gegen die portugiesischen Kolonialherren aufgelehnt, ist dann aber gleichzeitig eine Allianz eingegangen mit den Niederländern und hat während dieser Allianz auch selbst mit Versklavten gehandelt. Es gab in Berlin eine Initiative, eine Straße nach ihr zu benennen, und da kochten die Gemüter hoch – am Ende scheiterte der Vorschlag.

herCAREER: Was können wir heute tun, damit in Zukunft noch von den wichtigen Frauen der Gegenwart gesprochen wird?

Lörchner: Ich denke, jede:r kann im Kleinen Vorbild sein und ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass wir mit unserer Zeit und Aufmerksamkeit viel Macht haben. Wem räumen wir Sichtbarkeit ein? Wem hören wir zu? Wen beachten wir? Wenn wir das schaffen, wird es für die nächsten Generationen selbstverständlicher sein, ein vielfältiges Bild von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu haben.

Das Interview führte Julia Hägele.

Über die Person

Jasmin Lörchner studierte Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Geschichte und Volkswirtschaftlehre und ist seit 2015 als freie Journalistin tätig.
Historische Ereignisse und ihre Parallelen in der Gegenwart, vergessene Ereignisse und Menschen, die in den Chroniken übergangen wurden: Das sind die Geschichten, die sie besonders gern recherchiert und aufschreibt. Ihre Artikel erscheinen in Spiegel Geschichte und Der Spiegel, Mare, Geo Epoche und PM History. Oft spürt sie in ihren Artikeln denen nach, die in der Geschichtsschreibung noch unterrepräsentiert sind: Frauen und queere Personen. Begonnen hat ihre Karriere im Wirtschaftsjournalismus, bei der Financial Times Deutschland. Und auch wenn Geschichtsjournalismus heute ihr Fokus ist, wandert sie auch immer wieder noch in ihr früheres Feld und schreibt über Wirtschaft – besonders gern über die Rolle von Frauen.

Seit 2020 moderiert und produziert Lörchner den Podcast HerStory. Mit HerStory erzählt sie die Geschichten von Frauen und queeren Personen, die in den Medien und unserer Wahrnehmung bis heute nicht genug Aufmerksamkeit bekommen. Am 13.3.2023 ist ihr Buch „Nicht nur Heldinnen“ erschienen.

Am 12. Oktober ist Jasmin Lörchner zu Gast beim Authors-MeetUp der herCAREER Expo, Ort und Zeitpunkt finden Sie im Programm.