Schule soll aufs Leben vorbereiten, aber das Schulsystem bildet die gesellschaftlichen Veränderungen kaum ab. Die Bildungsinnovatorin Margret Rasfeld und die Leiterin des RealLabors Friedliche Bildungsrevolution, Ute Puder, zeigen in ihrem Buch „Das Schuldrama“ auf, wie sehr Kinder und Jugendliche unter dem veralteten System leiden. Sie bieten außerdem Lösungen, wie Schule völlig neu konzipiert werden kann. Eine Schule, die nicht nur auf das Leben, sondern auch auf die Berufstätigkeit vorbereitet. Denn im Gespräch mit herCAREER Redakteurin Kristina Appel zeigt sich: Die Probleme am Arbeitsmarkt sind hausgemacht.

„Wenn alle unterschiedliche Voraussetzungen haben, ist Lernen im Gleichschritt unmöglich. Darum kann Frontalunterricht nie inklusiv sein.“

herCAREER: Liebe Margret, liebe Ute, was läuft falsch an unseren Schulen?

Margret Rasfeld: Schule ist oft sinnentleert. Damit meine ich nicht, dass sinnlose Dinge unterrichtet werden, sondern dass der Unterricht frei von Sinn- und Sinneserfahrungen ist. Die Schüler:innen sitzen eingestuhlt und starren oft auf den Rücken eines*r Mitschüler*in. Keine Bewegung, kaum Erleben. Außerdem verschwenden wir das große Potenzial und das tiefe Interesse von Kindern, indem wir an starren Lehrplänen festhalten und die Schüler:innen zu Notenempfängern degradieren.

Ute Puder: Eine 17-jährige Schülerin namens Maria Siemens hat uns ein Denkprotokoll geschickt. Ich würde gerne einige Sätze daraus vorlesen, um ihre Eindrücke zu vermitteln.

herCAREER: Gern.

Ute Puder: „Ihr nennt das Bildung, eure Schulen sind Friedhöfe für Bewusstsein, eure Lehrpläne Fließbänder für geistige Konformität, und ihr habt den Mut, euch Pädagogen zu nennen. […] Eure Angst vor Gedanken, die nicht in Spalten passen, ist der Beweis, dass mein ganzes Dasein euer unausgesprochenes Urteil bestätigt. Wer zu weit denkt, stört den Unterricht. Ich war die Schülerin, die eure Bücher zerriss, weil zwischen den Zeilen nur Stillstand lag. Ich war das Kind, das ihr diagnostiziert habt, anstatt zuzuhören.”

herCAREER: Wie erklärt ihr dieses Paradox, dass Jugendliche in ein System der Konformität gepresst werden, aber später in der Berufswelt Individualist:innen werden sollen?

Margret Rasfeld: Diese Überindividualisierung ist das Resultat des Konkurrenzdenkens, das man in der Schule schon früh lernt. Im Diskurs heißt es oft, dass die Sozialen Medien schuld daran sind, dass sich Menschen ständig vergleichen. Aber mir haben Schüler schon Ende der 1980er berichtet, dass der Leistungs- und Konkurrenzgedanke in der Schule so stark ist, dass er sich auf ihre Freundschaften untereinander auswirkt. Soziale Medien verstärken dieses Phänomen vielleicht, sind aber nicht die Ursache. Höher, schneller weiter, mehr – dieses Credo in der Gesellschaft führt zu Vergleich und Konkurrenz. Die Zukunft liegt in der Kraft des WIR.

herCAREER: Warum verändert sich Schule dann so langsam?

Ute Puder: Zu viele Entscheidungsträger:innen nehmen ihre eigene Schulerfahrung zum Maßstab, obwohl wir in einer völlig anderen Welt leben. Digitalisierung, Globalisierung und die Klimakrise: Die Kinder von heute können nicht in eine strahlende Zukunft blicken. Das gesamte System ist ohnmächtig, weil es diese gigantischen Veränderungen nicht abbilden kann. Lehrkräfte sind überfordert und ich kenne kaum noch junge Menschen, die sich nicht von der Schule traumatisiert fühlen.

herCAREER: Ich höre hier viele Parallelen zur Arbeitswelt. Wir wissen aus Befragungen, dass viele Menschen sich bei der Arbeit nicht wohl oder sicher fühlen.

Margret Rasfeld: Kinder, die vor dem Schulbeginn noch 100 Fragen am Tag gestellt haben, werden in den Klassen mit Aufgaben konfrontiert, die sie lediglich richtig oder falsch beantworten können. So engt Schule mit jedem Jahr mehr ein. Das bedeutet Unterforderung in ihrem Potenzial, Verlust von Begeisterung und Kreativität und Angst vor Fehlern.

Ute Puder: Bei Erwachsenen ist das nicht anders: Wer sinnentleert arbeitet, läuft schneller Gefahr, an Burn-out zu erkranken und Dienst nach Vorschrift zu machen. Wir wissen auch, dass wertschätzende Beziehungen und eine inklusive Kultur wichtig sind, um psychologische Sicherheit und eine gesunde Fehlerkultur zu schaffen. Wer diese Form des Miteinanders jedoch nicht gelernt hat, fragt lieber: Was soll ich tun und wie?

herCAREER: Wie schafft ihr bessere Voraussetzungen für ein Miteinander? Woran arbeitet ihr in eurem sogenannten ResonanzRaum in Leipzig mit den jungen Leuten?

Ute Puder: Wir arbeiten zunächst am Gemeinschaftsgefühl. Viele der Kinder haben bereits Erfahrungen mit Einzeltherapie, haben aber nie gelernt, vertrauensvoll miteinander zu sprechen. Wir sehen immer wieder, dass die Kinder denken, sie seien mit ihren Problemen und Ängsten allein. Wenn wir in einem sicheren Raum eine Vertrauensbasis geschaffen haben, merken sie schnell, dass sie gemeinsame Erfahrungen haben – sie helfen einander und es gibt praktisch kein Mobbing mehr.

herCAREER: Ließen sich solche Resonanzräume nicht auch direkt an Schulen etablieren?

Margret Rasfeld: Das ist möglich und wäre wichtig. Viele Lehrkräfte trauen sich das nicht, da es nicht im Lehrplan steht und viele sich dafür nicht ausgebildet fühlen. Doch es gibt sozialpädagogische Fachkräfte, und jede Schule kann sich Hilfe von außen holen.

herCAREER: Euer Buch beschreibt sehr eindrücklich, dass Gesamtschulkonzepte eine effektive Grundlage für Intersektionalität und Inklusion sind – ein Feld, in dem Deutschland sich nicht nur im Bildungsbereich schwertut. Wie gelingt Integration in euren Schulen?

Margret Rasfeld: Wenn alle unterschiedliche Voraussetzungen haben, ist Lernen im Gleichschritt unmöglich. Darum kann Frontalunterricht nie inklusiv sein. Die Lösung liegt in der Auflösung des Frontalunterrichts in personalisiertes Lernen in sogenannten Lernbüros. Diese Lernbüros behandeln Lernbausteine wie „Märchen“ oder „Das kleine Einmaleins“. Die Kinder bekommen keine Noten, sondern erbringen Gelingensnachweise, Sie erarbeiten sich selbstbestimmt Kompetenzen anhand fachlicher Bausteine. Lehrkräfte sind dabei Lernbegleiter und haben feste Coachingzeiten. Mit diesem Konzept wird nicht länger das Misslingen dokumentiert, sondern das Gelingen organisiert.

herCAREER: Was verbessert sich so konkret für die Schüler:innen?

Margret Rasfeld: Jeder neue Baustein im Lernbüro ist ein Erfolgserlebnis und diese Erfolge motivieren natürlich. Und, weil niemand weiß, wo die anderen stehen, gibt es keinen Anlass für Vergleiche – auch nicht seitens der Eltern! In den Lernbüros mischen sich nicht nur Parallelklassen, sondern auch Jahrgänge. Stärkere Schüler:innen unterstützen schwächere beim Erarbeiten des Stoffs. Weil die Kinder sich alle aus der Zusammenarbeit kennen, gibt es so gut wie kein Mobbing und kleine Konflikte sind schnell gelöst.

herCAREER: Wie verändern sich Arbeit und Mindset für die Lehrkräfte?

Ute Puder: Es geht um einen Haltungswandel. Lehrkräfte sind nicht mehr die, die unterrichten, disziplinieren und bewerten, sondern sie werden zu Lernprozessbegleiter:innen, die aktivieren, unterstützen, wertschätzen – mit Blick auf ihr Potenzial. Das bedeutet auch, dass sie Kontrolle loslassen müssen.

herCAREER: Das ähnelt Führungskräften, die von disziplinarischer, hierarchischer Führung zu einem empathischen und empowernden Führungsstil wechseln. Wie gehen alteingesessene Lehrkräfte mit der Transformation um?

Margret Rasfeld: Die einen sind begeistert, andere brauchen einige Jahre, bis sie sich in der neuen Rolle wiederfinden. Neue Lernformate brauchen eine neue Haltung. Schule im Aufbruch bietet für den Wandel Transformationsbegleitung an. In zwei bis drei Jahren befähigen wir dabei die Schulen zu agiler Teamarbeit.

herCAREER: Kann man sich eurem Konzept auch langsam annähern?

Margret Rasfeld: Das Lernformat Frei Day ist eine Brücke, ein erster Schritt vom alten in ein neues Schulsystem. Die Schüler:innen beschäftigen sich einen Tag pro Woche mit den 17 Nachhaltigkeitszielen. Sie bearbeiten in Gruppen ein Thema, das sie interessiert, und eignen sich Wissen eigenständig an. Und dann gehen sie ins Handeln. Sie schauen: Wie können wir zu unserem Thema Schule oder Kommune nachhaltiger machen? Sie entwickeln Lösungen und setzen sie um. Dabei erfahren sie Selbstwirksamkeit und Sinn, starke Resilienzfaktoren. Schulen in Deutschland sind ohnehin verpflichtet, Bildung für nachhaltige Entwicklung zu implementieren, so ergänzt sich das gut.

herCAREER: Persönlichkeitsbildung und Eigenverantwortung werden bei euch großgeschrieben – mit den Fächern „Herausforderung“ und „Verantwortung“. Was geschieht in diesen Modulen und warum funktionieren sie so gut?

Margret Rasfeld: Ich hatte diese Idee schon 2007 – weil ich beobachtet habe, wie Kinder in der Schule vor allem lernen, zu folgen und zu gehorchen. Ich habe mit einer Klasse die Möglichkeit besprochen, eine Herausforderung in der Welt zu bewältigen – sie waren begeistert. Heute bekommen Schülerinnen und Schüler in den Jahrgängen 8, 9 und 10 die ersten drei Wochen im Schuljahr geschenkt, um in Gruppen hinaus in die Welt zu gehen und eine Herausforderung zu meistern, die sie sich selbst gestellt und eigenständig vorbereitet haben.

herCAREER: Paddeln in Polen, mit dem Rad an die Ostsee, Angeln in Frankreich – alles mit einem Budget von 150 €. Was haben die Eltern dazu gesagt?

Margret Rasfeld: Die waren am schwierigsten zu überzeugen – und das weniger wegen Unterrichtsausfall, sondern wegen ihrer Angst um die Sicherheit der Kinder. Aber der Erfolg des Moduls spricht für sich. Eine Mutter hat es sehr schön ausgedrückt: „Jedes Mal, wenn ich meine Tochter gehen lasse, bekomme ich mehr zurück als ich hergegeben habe.“

herCAREER: Was zeichnet das Fach „Verantwortung“ aus?

Margret Rasfeld: „Verantwortung“ als Lernmodul haben die Schüler:innen selbst erfunden – und das bereits im Jahr 1999. Das Fach erkennt an, dass man Verantwortung nur lernt, indem man Verantwortung übernimmt. Jede*r Schüler*in übernimmt für zwei Stunden pro Woche eine soziale oder ökologische Aufgabe im Gemeinwesen.

herCAREER: Zum Beispiel?

Ute Puder: Nachdem die PISA-Studie 2000 den deutschen Schülerinnen und Schülern eine schlechte Lesekompetenz bescheinigt hatte, riefen vier Mädchen einen Lesezirkel ins Leben. Es gibt Spielplatzprojekte, Hausaufgabenhilfe oder Seniorenbetreuung. Die Jugendlichen lernen zivilgesellschaftliches Engagement.

herCAREER: Mit so vielen Projekten – lässt sich der vorgeschriebene Lernstoff noch bewältigen?

Margret Rasfeld: Auch hier sprechen die Ergebnisse für sich: Wir haben bisher keine Schulabbrüche gehabt und ausgezeichnete Ergebnisse bei den zentralen Prüfungen.

herCAREER: Schulen sind chronisch unterfinanziert. Wie lassen sich all diese Maßnahmen bezahlen?

Margret Rasfeld: Das neue System ist nicht teurer als das alte. Für die Lernbüros werden keine zusätzlichen Lehrkräfte benötigt – im Gegenteil, sie sind weniger gestresst und können Beziehungen aufbauen. Auch die Materialkosten sind nicht höher, da weniger mit Büchern gearbeitet wird, und selbst ohne Tablets und Computer – das bietet sich heutzutage natürlich nicht an – wäre das Modell analog realisierbar.

Ute Puder: Es gibt viele Synergien. Schüler:innen übernehmen etwa auch Lehrer:innenfortbildungen: Seit 2009 kommen etwa 80 Lehrkräfte im Monat, um sich in der neuen Lernkultur schulen zu lassen.

herCAREER: Was muss geschehen, damit Schule flächendeckend einen systematischen Reset erfährt?

Ute Puder: Der Frei Day ist ein erster Schritt für traditionelle Schulen, starre Strukturen zu lockern. Die Herzfeld-Pädagogik, die Margret gemeinsam mit dem Reformpädagogen Otto Herz begründet hat, bietet mit Verantwortung, Herausforderung und Lernbüros dann einen konstruktiven Weg, Lehrpläne und future skills zu verbinden. Doch auch den traditionellen deutschen Lehrplan stellen wir in Frage. Um Zukunftskompetenzen zu integrieren, müssen alte Lehrpläne rigoros entrümpelt werden.

herCAREER: Wie durchbrechen wir also tradierte Muster?

Margret Rasfeld: Wir müssen eins nach dem anderen aufbrechen und verlernen. „Leben-Lernen statt Fakten-Wissen“, steht auf einer der Haltungswandelkarten, die wir im Reallabor verwenden. Ich habe kürzlich eine Klasse besucht, in der das Thema Globalisierung besprochen wurde. Da saßen Kinder mit 60 Prozent internationalem Hintergrund, doch der Lehrer wollte Globalisierung anhand von Definitionen vermitteln. Was für eine Verschwendung, wenn diese jungen Menschen eigene Globalisierungserfahrungen, Fluchterfahrungen und Generationstraumata mitbringen! Sie sprechen mehrere Sprachen, weil sie auf der Flucht aus Afrika in Italien gelebt haben. Gibt es bessere Ansätze, um Chancen und Herausforderungen von Globalisierung zu lehren?

herCAREER: Welche Haltungen gilt es noch zu verändern?

Ute Puder: Gestaltungsfreude statt Verwaltungsstress, Beziehung statt Entfremdung und Aufrichten statt Unterrichten. Kinder werden oft degradiert. Es heißt dann: „Ihr seid doch nur Kinder.“ Dabei sind sie oft die besten Lehrer:innen: Sie sagen die Wahrheit, sind sozial und intellektuell hochintelligent. Es ist unsere Aufgabe, diese Potenziale zu schöpfen.

 Das Gespräch führte herCAREER Redakteurin Kristina Appel.

Über die Personen

Margret Rasfeld, Jahrgang 1951, wirkte fast 40 Jahre als Lehrerin, in der Lehrerfortbildung und zwei Jahrzehnte als Schulleiterin. Als Bildungsinnovatorin und Beraterin setzt sie sich auch heute auf unterschiedlichen Ebenen für eine Neuausrichtung der Schulbildung ein. Die Evangelische Schule Berlin-Zentrum, die sie viele Jahre geleitet hat, gilt weltweit als Prototyp für den nötigen Paradigmenwechsel. Um Schulen bei der Transformation zu unterstützen, gründete Rasfeld 2012 gemeinsam mit Stephan Breidenbach und Gerald Hüther die Initiative „Schule im Aufbruch“. Diese wurde 2023 von der deutschen UNESCO-Kommission und dem Bundesbildungsministerium mit dem »Nationalen Preis – Bildung für nachhaltige Entwicklung« sowie mit dem »Team-Sonderpreis ›Hand in Hand‹« beim EMOTION AWARD ausgezeichnet.

Ute Puder, Diplom-Designerin, Regisseurin und Projektentwicklerin, Jahrgang 1962, initiiert seit vielen Jahren künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum, die sich mit notwendigen Veränderungsprozessen in der Gesellschaft auseinandersetzen. Als Unterrichtende an der Johanniter-Akademie erlebte sie hautnah die Verzweiflung und Verlorenheit vieler junger Menschen. 2022 lernte sie Margret Rasfeld kennen, die ihr von 70 erschütternden Briefen erzählte, die Schüler:innen an einem Leipziger Gymnasium veröffentlicht hatten. Sofort war klar: Wir laden diese Schüler:innen ein, um zu reden. Nach spontaner Gründung der 11 Rebell:innen entstand das RealLabor Friedliche Bildungsrevolution im Zentrum Leipzigs.

Auf der diesjährigen herCAREER Expo am 10. Oktober 2025 im Münchener MOC werden Margret Rasfeld und Ute Puder beim Authors-MeetUp über ihr Buch “Das Schul-Drama” und ihre Vision für die Zukunft der Schule sprechen.