„Der Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort beobachtet in seiner Praxis immer mehr Mädchen, die Angst vor dem Leben haben.“ Das SZ-Magazin hat ihn interviewt.

In seinem Buch „Mutlose Mädchen. Ein neues Phänomen besser verstehen. Hilfe für die seelische Gesundheit unserer Töchter“ beschreibt Schulte-Markwort jugendliche Patientinnen, die extrem antriebs- und ziellos sind. „Sie ziehen sich zurück, fühlen sich kraftlos, gehen plötzlich nicht mehr zur Schule, treffen keine Freunde. (…) Dabei ist es nicht so, dass sie nicht wollen oder dass sie tatsächlich an etwas scheitern“, sagt er.

Die Konfrontation mit diesen Mädchen habe bei ihm zunächst Ratlosigkeit ausgelöst. Er glaubt, „die Belastungen unserer Zeit – die Klimakrise, die die jungen Menschen beschäftigt, dann die Pandemie, jetzt der Krieg – haben dafür gesorgt, dass kollektive emotionale Strukturen nicht mehr so stabil sind, wie sie es mal waren. Somit kann der Mutlosigkeit weniger entgegengesetzt werden.“ Die sieht er im Zentrum: „Es ist keine Diagnose, aber für mich hat sich das zentrale Phänomen der Mutlosigkeit herauskristallisiert: Diesen Mädchen fehlt es an Mut, das Leben anzugehen.“

Warum betrifft das vor allem die Mädchen? Als Hintergrund sieht Schulte-Markwort Rollenbilder, die sich zwar verändert haben–aber fatalerweise nur teilweise. Die Mädchen sehen bei ihren Müttern den Anspruch, genauso aktiv und erfolgreich im Beruf zu sein wie die Männer, doch im Familienleben tragen sie die gleiche Verantwortung wie in früheren Zeiten – und sind dadurch doppelt belastet und oft überanstrengt. Ein solches Rollenvorbild könne auf die Töchter lähmend wirken. „Ich bin überzeugt davon, dass die Phänomene miteinander korrespondieren: die erschöpften Mütter und die mutlosen Mädchen. Die Töchter wollen nicht das Leben ihrer erschöpften Mütter.“

Es gehe keinesfalls um Stigmatisierung oder Schuldzuweisung, sagt der Therapeut – Schuldgefühle hätten Mütter schon genug. Übrigens kämen in seine Sprechstunden fast immer Mütter. „Väter bringen sich immer noch zu wenig in der Familienarbeit ein.“
Notwendig sei eine gesellschaftliche Diskussion über bestehende Geschlechtsstereotypen. „Was wollen wir unseren Kindern vermitteln, welche Persönlichkeiten wünschen wir uns? An welcher Stelle müssen wir fürsorglicher mit unseren Kindern sein, und wo geht es darum, sie machen zu lassen?“

Bei den Eltern gehe es vor allem um deren Haltung. „Haltung vermittelt sich, ohne dass etwas gesagt werden muss. (…)Wenn ich als Mutter oder Vater vermittle, dass mein Kind okay ist, wie es ist, dann ist das schon mal viel wert.“

Sein hoffnungsvolles Schlussbild: „Ich finde das Bild eines Theaters hilfreich, in dem wir alle ein Stück zurücktreten und die Bühne frei machen für die Mädchen. Nicht, indem wir ihnen zurufen: ‚Jetzt kommt endlich und zeigt euch!‘ Sondern, indem wir zurücktreten und abwarten. Dann werden die Mädchen Schritt für Schritt von sich aus nach vorne kommen.“

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Ein Beitrag von Natascha Hoffner, Founder & CEO of herCAREER I WiWo-Kolumnistin I LinkedIn-TOP-Voice 2020 I W&V 2019 – 100 Köpfe
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