Was passiert, wenn Mitgefühl zum wichtigsten Führungsinstrument wird? Lunia Hara stellt mit ihrem Konzept der Empathischen Führung die Regeln der hierarchischen Arbeitswelt auf den Kopf. Die Autorin von „Empathische Führung. Wie wir die Arbeitswelt mit Mitgefühl revolutionieren“, erläutert im Gespräch mit Kristina Appel, warum empathische Führung nicht nur Teams, sondern ganze Unternehmen und die Gesellschaft verändern kann. Wie gelingt es, Menschlichkeit und Feedback in den Alltag zu integrieren, ohne auszubrennen? Und: Kann wirklich jede*r empathisch führen? Ein Interview über Mut, Menschlichkeit und die Kraft, Arbeitskulturen nachhaltig zu revolutionieren.
„Führungskräfte, die empathisch führen, binden Mitarbeitende an das Unternehmen, die es sonst verlassen würden.“
herCAREER: Lunia, lass uns über folgende Situation sprechen: Die Führungskraft schickt nach einem turbulenten Teammeeting eine Nachricht und schreibt: „Hast du mal fünf Minuten?“ Für viele ist das ein totaler Stressmoment. „Worum geht es? Habe ich etwas falsch gemacht?” Wie würde eine empathische Führungskraft das besser formulieren?
Lunia Hara: Das ist ein tolles Beispiel, denn die Frage ist nicht etwa, was eine bessere Formulierung wäre. Die Frage ist: Warum macht diese Formulierung Angst? Wenn ein:e Mitarbeiter:in der Führungskraft vertraut und das Team ein sicheres Umfeld bietet, würde diese Nachricht keine Angst auslösen, sondern vielleicht nur den Gedanken: „Oh, keine Zeit für freundliche Floskeln, da geht es um etwas Dringendes.“ Angst in dieser Situation signalisiert, dass das Umfeld unberechenbar ist.
herCAREER: Und was, wenn die Führungskraft (noch) an einem vertrauensvollen Umfeld arbeitet? Wie ginge es besser?
Lunia Hara: Ich empfehle, transparent zu kommunizieren, worum es geht: „Ich möchte mit dir über ein neues Projekt sprechen“, „Ich würde gerne deinen Input zu dem Konflikt im Meeting hören“ oder „Ich brauche deine Meinung zu den neuen Entwürfen“. Offenheit ist wichtig! Sie ist eine der vier zentralen Säulen empathischer Führung.
herCAREER: Welche sind die anderen Säulen?
Lunia Hara: Menschlichkeit, Feedback und Selbstreflexion.
herCAREER: Du hast dich viele Jahre als empathische Führungskraft in traditionell hierarchischen Unternehmen bewegt. War es schwer, diese Säulen dort zu implementieren?
Lunia Hara: Ich war tatsächlich oft sehr hin- und hergerissen, denn natürlich gab es manche Kolleg:innen, die mir direkt gesagt haben: „Nimm dir nicht so viel Zeit für deine Mitarbeitenden.“ Oder: „Du bist viel zu nett. Geh mehr auf Distanz.“ Für mich gab es aber gar keinen anderen Weg, als auf meine eigene Art zu führen.
herCAREER: Mit welchem Effekt?
Lunia Hara: Mitarbeitende suchen sich ihre Führungskräfte aus – und am Ende ist es nicht immer die eigene. Es gab eine Zeit, da habe ich ein Team mit 15 Mitarbeitenden geführt, aber 30 Menschen kamen für einen Austausch zu mir. Führungskräfte, die diese zusätzliche Arbeit leisten, müssten eigentlich für diese Leistung kompensiert werden – schließlich binden sie Mitarbeitende an das Unternehmen, die es sonst verlassen würden. Aber die Arbeit wird nicht einmal gesehen, geschweige denn honoriert.
herCAREER: Warum lohnt es sich für dich trotzdem?
Lunia Hara: Als Mitarbeitende oder Team-Lead kann ich meine aktuellen Führungskräfte oder die Kultur vielleicht nicht verändern – aber ich kann die Führungskräfte von morgen beeinflussen. Alle, die bei mir gearbeitet haben und selbst Führungskraft geworden sind, haben es mir nachgemacht. Das heißt, wir haben das System schon an einigen Stellen durchbrochen. Mir ist wichtig zu zeigen: Was du vorlebst, multipliziert sich. Du kannst viel verändern!
herCAREER: An einigen Stellen im Buch wird deutlich, wie wütend dich die Annahmen des modernen Arbeitsmarkts über seine Arbeitskräfte machen. Was genau stört dich?
Lunia Hara: Es macht mich wütend, dass immer direkt Forderungen gestellt werden, ohne dass jemand versucht, die Mitarbeitenden zu verstehen. Wenn jemand demotiviert ist oder die Leistung nachlässt, sollte ich mich als Führungskraft zuerst fragen, warum, anstatt einfach zu sagen: „Du musst mehr arbeiten!” Ich finde: Erst einmal eine Ursachenanalyse machen – dann erst mehr fordern. Das hat mich auch an den Aussagen von Bundeskanzler Merz so geärgert.
herCAREER: Was genau?
Lunia Hara: Er ist der Kanzler. Es ist sein gutes Recht, zu sagen, dass wir mehr arbeiten müssen, solange er belastbare Begründungen dafür liefert. Erklär doch mal, warum! Wofür? Zu wessen Gunsten? Was ist die Vision? Was wurde schon ausprobiert und warum hat es nicht funktioniert? Warum kann das Geld nicht woanders herkommen? Mir fehlt diese Transparenz. Ich bin sehr sicher, dass viele Menschen gerne zwei Stunden mehr arbeiten würden, wenn sie wüssten, dass dadurch kein Kind mehr hungrig bleibt und niemand mehr auf der Straße schlafen muss. Aber die Aussage „Ihr müsst mehr arbeiten” reicht mir nicht.
herCAREER: Da fehlen dir also Offenheit und Feedback – und wahrscheinlich mehr Menschlichkeit … Das alles einzubringen, bedeutet zeitlichen Aufwand und auch emotionalen Einsatz. Wie schützt man sich als empathische Führungskraft davor, selbst auszubrennen?
Lunia Hara: Du solltest dir selbst die gleiche Empathie entgegenbringen, die du anderen entgegenbringst – und zwar als Allererstes! Niemandem ist geholfen, wenn du als Führungskraft und Bezugsperson wegbrichst. Darum ist diese Offenheit wichtig. Du darfst und musst sagen: „Ich hatte heute einen vollen Tag. Ich möchte mich aber ganz auf dich konzentrieren, darum müssen wir unseren Termin bitte verschieben.“ So bist du ein Vorbild für dein Team – denn empathische Führung hat auch viel mit Enablement zu tun.
herCAREER: Du schreibst, dass man Empathie erlernen kann. Gilt das auch für Führung? Oder braucht man dafür bestimmte Charaktereigenschaften?
Lunia Hara: Nur weil Empathie erlernbar ist, bedeutet das nicht, dass man automatisch eine empathische Führungskraft ist, denn dafür muss man Interesse an Menschen und am Helfen haben. Es gibt natürlich auch Leute, die sehr empathisch sind, aber gar kein Bedürfnis haben, ihr Wissen zu teilen. Sie arbeiten lieber allein. Eine Gallup-Studie hat herausgefunden, dass nur zehn Prozent der Menschen von Natur aus das Potenzial zur Führungskraft mitbringen. Wir sollten Führungskräfte also eigentlich viel genauer auswählen. Im Gegensatz dazu verfügen alle Menschen von Natur aus über Empathie. Das Problem ist, dass sie uns sukzessive abtrainiert wird, zum Beispiel, indem uns erzählt wird, dass wir Privates von Beruflichem trennen und uns emotional abkoppeln müssen.
herCAREER: Deine These ist, dass es genau umgekehrt sein sollte?
Lunia Hara: Ja, es sollte genau umgekehrt sein. Meine These ist, dass die Zeiten, für die diese Trennung geschaffen wurde, längst vorbei sind. Niemand muss mehr in die Fabrik gehen, nur weil sie der einzige Arbeitgeber in der Kleinstadt ist. Heute suchen sich Menschen Jobs, für die sie eine Leidenschaft haben. Wenn Firmen es schaffen, sogar diese Leute zu vergraulen, dann machen sie etwas falsch.
herCAREER: Welche strukturellen und prozessualen Werkzeuge helfen dir dabei, empathisch zu führen? Das One-on-One-Meeting scheint eine gute Voraussetzung zu sein?
Lunia Hara: Ja, kontinuierlicher Austausch, der nicht auf der fachlichen, sondern der zwischenmenschlichen Ebene stattfindet, ist wichtig. Und zwar auch dann, wenn gerade keine Probleme bestehen! Dann fällt der Termin eben kürzer aus, aber man vermittelt trotzdem: „Ich möchte dich sehen und hören, wie es dir geht.“ Mein Anspruch ist es, die Bindung aufrechtzuerhalten.
herCAREER: Was hältst du von der Open-Door-Policy?
Lunia Hara: Als Führungskraft muss ich anerkennen, dass Menschen unterschiedlich sind. Bei einer Open-Door-Policy gibt es immer Menschen, die sich trauen, hereinzukommen und dieses Angebot wahrzunehmen. Aber es wird auch Menschen geben, die das nicht tun. Ich muss also in Vorleistung gehen und immer wieder demonstrieren, dass ich jederzeit da bin. Es ist meine Aufgabe als Führungskraft, Vertrauen aufzubauen und kontinuierlich Interesse zu zeigen.
herCAREER: Was mache ich, wenn ich ein Teammitglied nicht mag? Kann ja passieren…
Lunia Hara: Dann musst du dich auf deine Rolle besinnen. Du bist Führungskraft und wirst dafür bezahlt, Mitarbeiter:innen zu führen, egal, ob du sie nett findest oder nicht. Hier kommt die Selbstreflexion ins Spiel. Ich besinne mich immer wieder auf meinen Anspruch, Menschen fachlich und persönlich weiterzuentwickeln. Wenn ich eine:r Mitarbeiter:in ausweiche, muss ich hinterfragen, warum ich ihr Feedback vorenthalte. Ich muss mir klarmachen, dass ich meinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht werde, wenn ich diese Person nicht weiterentwickle.
herCAREER: Wie gelingt es dir am besten, dich selbst zu reflektieren? Hast du dafür feste Termine oder Methoden?
Lunia Hara: Für mich ist Selbstreflexion zu einem Lebensstil geworden. Mein Ziel ist es, allen Menschen so bewusst zu begegnen und diese Prinzipien von Menschlichkeit, Offenheit, Feedback und Selbstreflexion überall zu leben, denn sie sind immer legitim. Wichtig ist die gesunde(!) Selbstreflexion. Gedankenspiralen oder Selbstvorwürfe bringen dich nicht weiter.
herCAREER: Reflektierst du allein oder mit Coaches bzw. Vertrauenspersonen?
Lunia Hara: Alles ist möglich. Manchmal reflektiere ich mit Freundinnen. Wer mutig ist, kann auch fremde Personen ansprechen und fragen: Wie hat das auf dich gewirkt? Ein frischer, ungetrübter Blick kann besonders hilfreich sein. Ich weiß mittlerweile, dass ich wirklich von jeder Person, der ich begegne, etwas lernen kann – über sie, über die Welt oder auch über mich. Wenn ich immer wieder kurz innehalte und mir das vor Augen führe, lerne ich ständig dazu.
herCAREER: Es scheint, als erfordere empathische Führung auf vielen Ebenen Mut. Warum lohnt es sich, diesen aufzubringen?
Lunia Hara: Zunächst die Meta-Ebene: Mit empathischer Führung trägst du zu einer besseren Arbeitswelt und somit peu à peu zu einer besseren Gesellschaft bei. Innerhalb eines Unternehmens schaffe ich ein vertrauensvolles Arbeitsumfeld und das macht Arbeit und Leben für alle leichter – auch für mich! Und auf persönlicher Ebene macht es mich zufrieden, weil ich andere Menschen unterstütze. Meine Arbeit gewinnt dadurch an Sinn und macht so viel Spaß.
Das Gespräch führte herCAREER Redakteurin Kristina Appel.
Über die Person
Lunia Hara ist Expertin für empathische Führung und wichtige Impulsgeberin für die Themen Modern Leadership, Diversity und Kulturwandel. Mit dem Appell, die eigenen Erfahrungen, Werte und Ansichten zu reflektieren, inspiriert sie Führungskräfte zu mehr Offenheit und mehr Empathie im Job, um ganzheitliche Unternehmenserfolge zu erzielen. Als Director Project Management bei diconium, einem Tochterunternehmen von VW, leitet sie selbst ein diverses Team. Außerdem ist sie Sparringspartner für Management-Teams und Executives zum Thema empathische Führung. Lunia Hara schreibt regelmäßig u.a. als Kolumnistin für den SPIEGEL und teilt praktische Erfahrungswerte auch als Speakerin auf verschiedenen Panels und Events. Sie ist LinkedIn TopVoice, erhielt den EDITION F Award 2022 für mehr Mut und wurde 2023 von der Beyond Gender Agenda als Woman of the Year ausgezeichnet. 2025 erschien ihr Buch “Empathische Führung -Wie wir die Arbeitswelt mit Mitgefühl revolutionieren” bei Deutsche Verlags-Anstalt, DVA.
Auf der diesjährigen herCAREER Expo wird Lunia Hara am Donnerstag, den 09. Oktober, beim Authors-MeetUp mit Moderatorin Silvia Feist ein Gespräch darüber führen, wie wir die (Arbeits-)Welt mit Mitgefühl revolutionieren.