Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist im deutschen Arbeitsrecht verankert. Doch sobald Beschäftigte Eltern werden, gelten meist ungeschriebene Gesetze – mit Nachteilen für Frauen, die sich noch immer mehrheitlich um die Familie kümmern. Die Rechtsanwältin, Mediatorin und Fachanwältin für Arbeitsrecht Nina Straßner ist Table Captain der herCAREER@Night und liest beim Authors-MeetUp aus ihrem Buch „Keine Kinder sind auch keine Lösung“. Ein Vorab-Gespräch über kinderfeindliche Spielregeln in der Arbeitswelt und wie wir uns davon befreien können.

30-Stunden-Woche und mehr Elterngeld

herCAREER: Frau Straßner, kürzlich feierte das Grundgesetz seinen 70. Geburtstag. Darin steht, Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Wie gut ist diese Errungenschaft im deutschen Arbeitsrecht verankert?

Nina Straßner: Unsere Gesetze sind eigentlich gar nicht so schlecht – bis auf einige hartnäckige Baustellen. Die letzten Jahrzehnte ist elternrechtlich viel passiert. Doch sobald Arbeitnehmer/innen Kinder kriegen, fallen ihnen Schutzrechte reihenweise auf die Füße. Schon wenn Frauen nur „in Verdacht“ geraten, diese nutzen zu wollen, sprich schwanger werden, ändert sich alles. Das gilt übrigens auch für Männer, die in der Kantine zu laut erzählen, dass ihre Frau oder Freundin bald ein Kind bekommt und sie länger in Elternzeit gehen oder ab jetzt in Teilzeit arbeiten. Da legt es bei Kolleg/innen einen Schalter um: „Aha, die haben jetzt also ihre Karriereorientierung abgestellt“. Diese Beschäftigten werden leicht auf die Abschussliste gesetzt. Da komme ich dann meistens ins Spiel und oft zu spät, wenn die Situation schon total verfahren ist. Das ist ein bisschen wie bei Unfallchirurg/innen, die den Schluss ziehen könnten, Motorradfahren sei kaum zu überleben, weil sie so viele Opfer auf dem Tisch haben. Die Fälle die regelkonform laufen, landen ja nicht bei mir. Und ich hätte gerne viel weniger davon. Habe ich aber nicht, trotz anscheinend guter Rechtslage.

herCAREER: Wie viele Ihrer „Unfallopfer“ sind Frauen?

Nina Straßner: Bei 95 Prozent meiner weiblichen Mandanten hat der Fall im weiteren Sinn mit Familiengründung zu tun, bei den Männern sind es vielleicht 30 Prozent. Ich habe in den letzten zehn Jahren zwei Geschäftsführerverträge für Frauen begleitet und vorbereitet und etwa 50 für Männer.

herCAREER: Diese Diskriminierung am Arbeitsplatz, die vorwiegend Mütter trifft, ist demnach eine rechtliche Grauzone?

Nina Straßner: Ja, das ist unglaublich hintergründig. Wir haben ein Elterngeldgesetz, ein Entgelttransparenzgesetz, das Gute-KiTa-Gesetz – die Situation für Eltern ist viel besser geworden. Doch das dient leider auch als Alibi, denn diese Gesetze müssen ja auch in der Praxis von den Menschen umgesetzt, eingefordert und angewandt werden. Daran mangelt es. Die Fakten oder auch die Berichte von Frauen sprechen eine deutliche Sprache. 63 Prozent der Frauen haben laut einer aktuellen Umfrage Angst vor Altersarmut, im Vergleich zu 30 Prozent der befragten Männer. Was für ein Unterschied! Zehn Jahre nach der Geburt des ersten Kindes verdienen Frauen in Deutschland 60 Prozent weniger als in dem Jahr vor der Geburt des ersten Kindes. Das ist doch schockierend? Als Arbeitsrechtlerin sehe ich die Lohnlücke jeden Tag in der Beratung, in den Verträgen und Lebensläufen. Deshalb muss ich immer ein bisschen meditieren, wenn ich irgendwo lese, der Gender Pay Gap sei eine „Lüge“. Das macht mich wahnsinnig wütend, diese seltsame Entschlossenheit, Dinge zu verdrehen, zu verleugnen und nicht hinschauen zu wollen.

herCAREER: Frauen sind beispielsweise in MINT-Berufen unterrepräsentiert, wo sie mehr verdienen könnten…

Nina Straßner: Es ist fraglos wichtig, dafür zu sorgen, dass Frauen sich in männerdominierten Branchen wohlfühlen und die MINT-Berufe dadurch zugänglicher, attraktiver und diverser werden. Mit einer Lösung des Gender Pay Gap durch die schlechter bezahlenden „Frauen“-Branchen hat das nichts zu tun, das ist eine völlig andere Fragestellung. Es kann doch nicht die Lösung sein, dass jetzt alle in die MINT-Berufe gehen sollen, oder? Ich wäre ein Desaster als Ingenieurin! Warum sollen Frauen eine bestimmte Karriere machen müssen, nur weil die besser bezahlt ist, ihnen aber keinen Spaß macht oder ihren Neigungen entspricht? Das ist doch viel zu kurz gedacht. Das würde ja nur gut gehen, wenn dann die Männer in schlecht bezahlten „Frauenberufe“ wechseln. Wer pflegt denn dann? Wer erzieht die Kinder? Wer lehrt in den Grundschulen? Nur weil man selbst Elektroingenieur geworden ist und das gut findet, sollte es doch trotzdem in einer Gesellschaft, in der es uns relativ gut geht, möglich sein, dass eine Frau – oder auch ein Mann natürlich – mit Herzblut bitte Kindergärtnerin, Altenpflegerin oder Grafikerin wird, ohne am Hungertuch zu nagen. Diese unterschiedlichen Wertigkeiten der Berufe, so wie sie aktuell sind, haben keinerlei Berechtigung. Ein Ingenieur wird immer mehr verdienen, als eine Reinigungskraft. Aber eine Erzieherin muss nicht weniger verdienen als ein Elektrotechniker. Das ist eine Frage wie wir „Leistung“ bewerten und da hakt’s massiv.

herCAREER: Sie haben das Entgelttransparenzgesetz angesprochen. Was bringt es Frauen bisher?

Nina Straßner: Dieses Gesetz ist aus Praktikersicht eines der größten Lächerlichkeiten, die wir in den letzten Jahren hervorgebracht haben. Reine Kosmetik. Arbeitnehmer/innen haben erst ab einer Betriebsgröße von 200 Mitarbeitern den Anspruch auf Auskunft und nur im Vergleich zu 6 Arbeitnehmer/innen des anderen Geschlechts in der gleichen Position. Die allermeisten fallen da also schon raus und die, die es nicht tun, haben es sich dann schon durch die Anfrage beim Arbeitgeber halb verscherzt. In Großbritannien müssen Unternehmen ab 250 Beschäftigten die Lohnlücke ohne Zutun der Arbeitnehmer/innen öffentlich machen. In Island gibt es ein Gesetz, das den Gender Pay Gap schlicht verbietet und mit Bußgeldern belegt. In Schweden kann jeder das Gehalt jedes Mitbürgers abrufen. Es ist wie oft mit der Politik: Die ersten Entwürfe des Gesetzes waren gut. Da stand zum Beispiel drin, dass Arbeitgeber das zu erwartende Gehalt in Stellenanzeigen veröffentlichen müssen, damit Bewerber wissen, wie die Stelle intern eingestuft wird. Dieses funktionslose Gesetz dient denen, die sagen, es sei doch alles in bester Ordnung. Denn normale Menschen sind oft zu müde, sich ständig mit den Feinheiten des Arbeitsrechts zu befassen.

herCAREER: Wo müsste man Ihrer Meinung nach ansetzen, um diesen ganzen strukturellen Mechanismus zu durchbrechen?

Nina Straßner: Bei den Männern! Man muss viel stärker Anreize und sogar an manchen Stellen Verpflichtungen schaffen, um das System so zu verändern, dass unbezahlte Familienarbeit auf beide Schultern verteilt werden kann – beispielsweise über eine radikal neues Elterngeld-System. Die Auszahlung sollte höher sein, gleichzeitig aber nur dann gewährt werden, wenn beide gleich lange in Elternzeit gehen. In Schweden und Island ist das schon so. Das führt dazu, dass der Wegfall des oft höheren Gehalts des Mannes nicht so schmerzt. Und wenn ein Personaler nicht mehr zu 90 Prozent davon ausgehen kann, dass die Frau bei Schwangerschaft ausfällt, sondern dass es genauso oft die Männer betrifft, würde das von Anfang für mehr Chancengleichheit an sorgen. Arbeitgeber/innen können schließlich nicht jeden ausschließen oder sachgrundlos befristen, der eine Freundin hat oder dessen Frau schwanger wird. Die zwei Monate Elternzeit, die Väter aktuell gern nehmen, sind locker zu überbrücken und ändern gesellschaftlich gar nichts. Da fahren sie dann glückselig mit dem Wohnmobil durch Schweden und schreiben ein Buch über ihre Erfahrungen – hinterher buckeln sie wieder 40 Stunden, während die Frau auf 25 Stunden Teilzeit geht und 100 Prozent des Haushalts schmeißt. Sie macht mehr und verzichtet auf Gehalt und Altersvorsorge. Das hinkt.

herCAREER: Haben Männer Ihrer Erfahrung zufolge überhaupt ein Interesse daran, sich stärker in die Familie einzubringen?

Nina Straßner: Viele haben das Interesse. Die anderen verstecken sich hinter angeblichen Nachteilen, die sie lieber ihren Frauen aufbürden. Soll die doch beruflich zurückstecken, ich bin eh lieber bei den Jungs im Büro. Trotzdem sehe ich einen deutlichen Wandel. Gemeinsam mit einer Ärztin und einer Hebamme biete ich einen Geburtsvorbereitungskurs für Männer an – neben der Notfallmedizin für Babys übernehme ich den rechtlichen Teil. Der Kurs ist teilweise über Monate ausgebucht und auch das Selbstverständnis der Männer wächst, länger für die Familie da zu sein. Sie horchen immer sehr auf, wenn ich ihnen erkläre, dass die drei Jahre Elternzeit auch als Elternteilzeit genutzt werden kann. Das ist viel zu wenig bekannt. Bis das Kind acht Jahre alt ist, können sie einen Antrag stellen, dass sie für ein Jahr statt 40 Stunden nur 25 arbeiten und anschließend wieder in Vollzeit gehen und diesen Antrag dürfen Arbeitgeber nur mit dringenden Gründen ablehnen. Die haben die wenigsten Arbeitgeber in der Praxis.

herCAREER: Das Teilzeitgesetz sieht auch vor, dass man befristet in Teilzeit gehen kann. Was ist der Unterschied?

Nina Straßner: Seit Anfang 2019 haben alle Arbeitnehmer einen Anspruch auf eine zeitlich begrenzte Teilzeitarbeit, für mindestens ein oder höchstens fünf Jahre. Danach können sie wieder zur ursprünglichen Arbeitszeit zurückkehren. Bisher gab es die Möglichkeit auch schon, aber der Arbeitgeber konnte einfach „nein“ sagen, ohne viel erklären zu müssen oder gerichtlich auf hohem Niveau überprüfbar zu sein, ob das auch stimmt. Nun muss er beweisen, dass betriebliche Gründe dagegenstehen und es gibt eine Beweislastumkehr zugunsten der Arbeitnehmer/innen. Doch das neue Gesetz ist trotzdem ein ziemlicher Scherz: Es gilt nur in Unternehmen mit mindestens 45 Mitarbeitern und ein Antrag kann ablehnt werden, wenn schon eine/r von 15 von der Brückenteilzeit Gebrauch gemacht hat. Das ist wie Homöopathie gegen Masern einzusetzen.

herCAREER: Aber das verbessert doch schon die Situation von Müttern, die befristet in Teilzeit gehen wollen, oder?

Nina Straßner: Nur geringfügig, denn viele Unternehmen versuchen es eben trotzdem, teilweise kann man da schon unlauter nennen. Diese Fälle landen dann oft bei mir. Da kann man auch wirklich nicht immer von naiver Unwissenheit seitens der Arbeitgeber reden, das ist höchstens mal bei kleinen Unternehmen der Fall. Bei manchen großen Unternehmen mit funktionierenden Personalabteilungen sieht man deutlich die Intention, befristete Teilzeitstellen oder Elternteilzeit unrechtmäßig zu verweigern. Das Problem dabei ist auch, dass viele Arbeitnehmer nicht merken, wenn sie ungerecht behandelt werden. Wenn der Arbeitgeber sagt, „das geht nicht, schade schade“, nehmen das die meisten so hin. Ich hatte mal eine Mandantin, da stand im Arbeitsvertrag sinngemäß, „wenn Sie schwanger werden, dann werde ich Ihren Arbeitsvertrag nachträglich befristen“. Als es dann so kam und sie beim Chef vorstellig wurde, sagte der, er könne sie ja nicht anders behandeln als die anderen Frauen, da habe er das auch immer gemacht. Das sei der „arbeitsrechtliche Gleichberechtigungsgrundsatz“. Klingt voll schlau, ist aber totaler Bullshit und sogar hart bußgeldbewährt durch das AGG.

herCAREER: Aber kann der Arbeitgeber hier nicht argumentieren, „Sie haben ja gewusst, was Sie unterschreiben“?

Nina Straßner: Nein. Manchmal weiß man es eben nicht, ob es erlaubt ist oder nicht oder es nur gut klingt, aber verboten ist. Arbeitnehmer/innen denken aber oft, wenn sie etwas unterschrieben haben, können sie nichts mehr machen. Diese Vertragstreue ist uns so eingeimpft, das kennen wir vom Autokauf vom Nachbarn. Aber das Arbeitsrecht hat natürlich andere Regeln. Es erkennt an, dass wir es hier mit einem Über- und Unterordnungsverhältnis zu tun haben. Das ist kein Vertrag auf Augenhöhe. Arbeitnehmer/innen unterschreiben viel, wenn sie einen Job brauchen und eine Familie ernähren müssen. Deswegen kann man Arbeitsverträge im Nachhinein immer noch an vielen Stellen korrigieren. Man kann den diskriminierendsten Arbeitsvertrag der Welt unterschreiben, unwirksame Klauseln werden durch die Unterschrift nicht wirksam, sondern dann von den Gerichten kassiert, wenn die Arbeitnehmer sich wehren. Das geschieht allerdings viel zu wenig, weil es Geld kostet und das Arbeitsverhältnis eigentlich immer zerstört.

herCAREER: Wie sieht es mit Geheimhaltungsklauseln im Arbeitsvertrag aus, beispielsweise bezüglich des eigenen Gehalts?

Nina Straßner: „Schutz“ und Verschwiegenheit in dem Bereich schadet in erster Linie Frauen. Viele denken, dass sie arbeitsrechtlich nicht über Gehalt reden dürfen, das stimmt aber natürlich nicht. Selbstverständlich darf man über Gehälter reden, auch mit den Kollegen. Das sollte man sogar. Die einzige Ausnahme liegt dann vor, wenn das eigene Gehalt Teil eines Betriebsgeheimnisses ist. Das ist vielleicht bei Martin Winterkorn der Fall, aber nicht bei Bettina Schröder, die als Sachbearbeiterin in einem Lokomotivenkonzern in der Buchhaltung oder als Vorstandsassistentin arbeitet.

herCAREER: Wie war das bei Ihnen persönlich – haben Sie als Frau und Mutter auch Diskriminierung in Ihrer Karriere erlebt?

Nina Straßner: Am Anfang des Berufslebens ist mir einmal ganz klar gesagt worden, dass ich den Job zwar kriege, sie aber „eigentlich keine Frau auf der Stelle“ haben wollten und mich nur nehmen, weil das Vorstellungsgespräch sehr überzeugend gewesen sei. Ich wollte da dann nicht mehr arbeiten, hätte aber eigentlich nicht viele Alternativen gehabt. Die Rückmeldungen auf die zeitgleichen Bewerbungen meines Mannes waren viel positiver als auf meine. Ich wurde in einer Tour abgelehnt. Wir haben beide denselben Beruf, wir sind beide Rechtsanwälte, haben das gleiche studiert und waren gleichzeitig mit dem Studium fertig. Ich war etwas qualifizierter, als ich aus dem Referendariat kann. Ich hatte geringfügig bessere Noten und mehr Soft Skills wie Sprachkenntnisse und Auslandserfahrung. Er war 32 und ich 25, bei beiden ein „gefährliches Alter“. Wir waren verheiratet, aber bei mir hatte das einen Einfluss und bei ihm nicht. Ihn fanden alle gut, weil er ja schon so ein verantwortungsvoller Ehemann ist. Ich war ein wandelndes Risiko für Familiengründung.

herCAREER: Wie war es dann als Ihre Kinder kamen?

Nina Straßner: Da hat man die Diskriminierungsstrukturen noch deutlicher gesehen: Zwischen dem ersten und dem zweiten Kind habe ich beruflich weniger gemacht als er – das wollte ich so. Mein Mann hängte mich in der kurzen Zeit schon ab, obwohl ich die optimalere Startposition hatte. Er machte in der Zeit zwei Fachanwaltstitel, für die man je nach Fachgebiet viele praktische Fälle in drei Jahren nachweisen muss. Das ist eine rein zeitliche Geschichte und in Teilzeit kaum möglich.

Wir sind in diese typische strukturelle Geschichte reingelaufen und vielleicht habe ich mich nicht genug gefragt, ob es auch anders sein könnte. Mein Mann fand es total traurig, dass er am Anfang so wenig von dem Baby mitgekriegte und ich hatte nach einem halben Jahr ein Babybrei-Vakuum im Kopf. Beim zweiten Kind haben wir uns dann viel mehr zugetraut, die Aufgaben neu zu verteilen. Wir brauchten diese Erfahrung, wer wir als Eltern und Partner sind. Wir haben das Glück, dass wir beide selbständig sind und das sehr gut regeln können. Heute arbeiten wir beide etwa 30 Stunden und teilen uns die Arbeit mit Haushalt und Kindern. Ich bin sowieso generell für die 30-Stunden-Woche, selbstverständlich bei gleichem Gehalt.

herCAREER: Was würden Sie sich davon versprechen?

Nina Straßner: Wir arbeiten insgesamt zu viel. Früher hat ja einer 100 Prozent zuhause gemacht und der andere 40 Stunden bei der Arbeit. Jetzt arbeiten beide und die gesamte Regelarbeitszeit ist dadurch viel zu hoch. Wir haben unsere Zeit mit der Digitalisierung optimiert und machen auf dem Weg zur Arbeit die ganzen Erledigungen auf dem Handy, die früher Stunden verschlangen. Aber im Privatleben ist davon nichts hängengeblieben, wir haben trotzdem zu viel zu tun und hängen noch 10 Stunden pro Tag bei der Arbeit. Wenn wir die Arbeitszeit von 40 auf 30 Stunden reduzieren, werden wir nicht unproduktiver, höchstens vielleicht in Ausnahmeberufen. Ich schaffe meine Arbeit in sechs Stunden pro Tag, die ich konzentriert arbeite. Wir verbummeln viel Zeit am Arbeitsplatz, halten ein Schwätzchen mit Kollegen anstatt sie mit Kindern im Klettergarten zu verbringen. Es geht doch bei der Arbeit darum, dass wir unsere Aufgaben erledigen, nicht wie lange wir dafür brauchen und wann wir das machen. Arbeitszeiten müssen insgesamt flexibler werden und Arbeitgeber müssten ihren Beschäftigten mehr vertrauen. Die positiven Effekte erlebe ich, wenn wir eine Mediation machen. Wenn frühzeitig miteinander geredet wird, dann ist die Atmosphäre nicht schon so vergiftet und da kommt man fast immer zu echt guten Lösungen.

herCAREER: Doch die finanzielle Last einer 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich läge bei den Arbeitgebern. Warum sollten sie sich darauf einlassen?

Nina Straßner: Als damals das Recht auf Teilzeit eingeführt wurde, haben wir gedacht, die deutsche Wirtschaft wird zusammenbrechen. Das ist nicht passiert. Viele Unternehmen bewegen sich heute schon, weil sie dringend Fachkräfte suchen. Gerade auf der herCAREER gibt es viele tolle Unternehmen, die das schon richtig proaktiv und toll machen und auch gerne hinkriegen. Wenn der Druck groß genug ist, geht ganz viel, all das, was wir New Work nennen – von Vertrauensarbeitszeit, Kinderzuschlägen, Führungstandems, betriebliche Kindergärten bis hin zu transparenten Gehältern. Zeit hat dabei den Dienstwagen als wertvollste Währung abgelöst. Deswegen bin ich gar nicht so unglücklich über das aktuelle Urteil des EuGH zur Zeiterfassung. Das ist nicht das Ende der Vertrauensarbeitszeit, sondern der Auftrag an den Gesetzgeber, das Arbeitszeitgesetz mal zu überdenken und flexibler anzugehen. Die Lösung könnte ein größerer Beurteilungszeitraum sein, zum Beispiel Höchstarbeitszeiten pro Woche. Damit könnte man nicht nur Arbeit und Familie besser miteinander verknüpfen. Gute Familienpolitik bringt auch bessere Ergebnisse für Menschen, die gar keine Kinder haben. Die Bedürfnisse sind ganz ähnlich.

herCAREER: Mit welchem/r Politiker/in würden Sie sich denn gerne mal persönlich treffen und darüber sprechen?

Nina Straßner: Mit dem Familienministerium und dem Arbeitsministerium – und zwar mit beiden gemeinsam, gerne auch mit ihren Mitarbeitern, die die Gesetze ausarbeiten. Diese beiden Ministerien müssten viel stärker verknüpft werden und dafür würde ich mit ihnen über die Realität sprechen, wie sie bei mir ankommt, von einem Manager, der 15.000 Euro im Monat verdient, bis zur alleinerziehenden Mutter, die mit 1.200 Euro im Monat auskommen muss. Wir müssten mehr aus unseren Blasen herauskommen. Toll fände ich dafür endlich mal eine weibliche Alleinerziehende als Finanzministerin. Die hat ganz andere Erfahrungen und Werte, würde Strukturen aufbrechen und vielleicht das Geld ganz anders auf die Ministerien verteilen.

herCAREER: Welche Idee aus Ihrem Buch „Keine Kinder sind auch keine Lösung“ würden Sie bei einem solchen Gespräch besonders hervorheben?

Nina Straßner: Unsere Kinder und die Kinder der anderen vereinen uns alle. Niemand muss Kinder bekommen – so meine ich den Titel meines Buches nicht. Wenn jemand keine Kinder möchte, sollte das aber eine selbstgewählte Entscheidung sein. Heute hebelt unser System den Generationenvertrag aber noch oft aus. Wir dürfen nicht vergessen: Junge Menschen bezahlen für unsere Rente und das gesamte Sozialsystem, auch und gerade für die Alten und die noch jüngeren. Für die Wirtschaft sind Kinder die Kunden von morgen. Wir schaden unserer Gesellschaft, wenn wir Kinderkriegen nicht attraktiv machen, sondern bestrafen – dann bricht das ganze System zusammen. Das können wir heute schon in der Pflege beobachten. Wir sollten füreinander einstehen, gerade in einer alternden Gesellschaft. Wenn wir über den Wert von Arbeit reden, sollte das auch Familienarbeit einschließen. Kinder sind keine rein private Entscheidung. Sie halten unser System am Laufen.

Interview: Stefanie Hornung

Auf der herCAREER vom 10. bis 11. Oktober 2019 im MTC München ist Nina Straßner mit ihrem Buch „Keine Kinder sind auch keine Lösung“ beim Authors-MeetUp dabei. Außerdem können sich Besucher/innen mit ihr auf der herCAREER@Night austauschen, wo sie als Table Captain ihre Karriereerfahrungen teilt.

Über die Person

Nina Straßner ist Rechtsanwältin, Mediatorin und Fachanwältin für Arbeitsrecht. Sie schult regelmäßig Unternehmen und Führungskräfte in allen Bereichen des AGG und betreut Präventionsprogramme rund um Diskriminierung am Arbeitsplatz. Nebenberuflich schreibt sie Bücher, Artikel und Kolumnen. In ihrem Blog Juramama entlarvt sie Absurditäten und Ungerechtigkeiten, die berufstätige Mütter erleben. Erst kürzlich wurde sie für den Beitrag „Raus aus meinem Uterus“ über die Doppelmoral der Politik im Umgang mit § 219a, der Ärzten Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft untersagt, mit dem Influencer-Preis „Goldene Blogger“ in der Kategorie „Blogtext des Jahres“ ausgezeichnet. Auf Podiumsdiskussionen und Konferenzen spricht sie häufig über rechtliche und gesellschaftsrelevante Probleme im Zusammenhang mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Sie lebt mit ihrer Familie in Kiel.

Hier geht es zur aktuellen Pressemitteilung von Nina Straßner.