Welches ist deine größte Schwäche? Dass du dich nicht auf deine Stärken konzentrierst! Denn wer das tut, ist produktiver, engagierter und erfüllter. Anja Wittig verantwortet als Talent Lead den Bereich Technology Strategie und Architektur bei Deloitte. Sie berät ihre Kunden rund um IT-Strategie, IT-Organisations-Design und Transformation und stellt nicht nur bei sich, sondern auch bei ihren Mitarbeitenden und Teams die Stärken in den Fokus. Ihre Botschaft: Konzentriere dich auf das, was dir leichtfällt und Spaß macht, und nicht auf deine Schwächen. Warum – und wie das gelingt, verrät sie im Interview.

„Man ist glücklicher, produktiver, wenn man sich vermehrt mit Dingen beschäftigt, die einem Spaß machen und die leichter von der Hand gehen“

herCAREER: Anja, eine beliebte Frage im Bewerbungs-Interview ist die Frage nach den Schwächen. Welche Antwort ist darauf sinnvoll?

Anja Wittig: Ich würde diese Frage einem Bewerber oder einer Bewerberin nicht stellen. Denn der Fokus auf die Schwächen ist meiner Meinung nach der falsche Ansatz. Das war früher einmal wichtig und hat auch in Feedbackgesprächen eine große Rolle gespielt. Da sprach man insbesondere über das, woran die Mitarbeitenden noch arbeiten müssen. Inzwischen ändert sich das zum Glück. Denn wir wissen mittlerweile, dass wir von unseren Stärken viel mehr profitieren.

herCAREER: Warum bringt es langfristig mehr, sich auf die Stärken zu konzentrieren?

Anja Wittig: Es treibt die Karriereentwicklung voran und macht effektiver. Denn sich nur auf das zu konzentrieren, worin man nicht gut ist, ist mühsam und zeitaufwändig – und am Ende sind andere immer besser und man selbst kommt nicht ans Ziel. Anders sieht es mit den Stärken aus: Wer mehr Dinge macht, die Spaß und Freude bringen, die einem leichter fallen als anderen, wird eher gesehen, für eine Beförderung vorgeschlagen, kann mehr Verantwortung übernehmen. Man ist glücklicher, produktiver, wenn man sich vermehrt mit Dingen beschäftigt, die einem Spaß machen und die leichter von der Hand gehen. Für Organisationen lohnt sich das übrigens auch: Denn die Mitarbeiterzufriedenheit und damit die Produktivität des Unternehmens steigen.

herCAREER: Was heißt eigentlich „Stärken“ – und wie erkennen wir sie? Nicht jede:r weiß, was er oder sie besonders gut kann…

Anja Wittig: Stärken sind die Dinge, die uns leichtfallen – im Alltag und in der täglichen Arbeit. Dinge, die wir schneller erledigen als andere, die wir uns schneller aneignen. Oft gehen die Stärken auch mit unseren Talenten einher. Manche Menschen sind musikalisch, andere mathematisch oder sprachlich begabt. Es hilft, sich zu überlegen, wo wir gutes Feedback bekommen und was wir gerne machen. Das was ich gut kann zusammen mit meinen Talenten – und das ergänzt um die Dinge, die ich gerne mache, das ist eigentlich die ideale Stärke. Denn etwas, das ich gut kann, nützt mir ja auch nicht viel, wenn ich das nicht gerne mache.

herCAREER: Wie kamst du zu diesem Thema? Gab es dafür ein Schlüsselerlebnis?

Anja Wittig: Vor etwa zehn Jahren hat mir eine Mentorin das Buch „Now, Discover your Strengths“ gegeben, das genau diese Philosophie verfolgt. Dazu gibt es einen ganz bekannten Test (CliftonStrengths von Gallup, Anm. d. Red.), den ich damals gemacht habe, um meine eigenen Stärken zu finden. Und habe schnell festgestellt, dass das meiner Entwicklung und Produktivität wirklich total zuträglich ist!

herCAREER: Wie können wir unsere Stärken denn im Job einsetzen?

Anja Wittig: Indem wir öfter „Nein“ sagen zu den Dingen, bei denen wir schon wissen, dass wir sie nicht so gut können oder gar nicht machen wollen. Wenn jemand nicht gerne auf der Bühne steht und Vorträge hält, sollte er oder sie auch nicht die Hand heben, wenn es um dieses Thema geht. Dafür lieber aktiv „Ja“ sagen, wenn eine Aufgabe kommt, die perfekt passt und in der man total aufgeht. Im Team ist es sinnvoll, gleich zu Beginn zu sagen, welche Stärken wir einbringen können, dann profitieren auch alle anderen davon.

herCAREER: Woran liegt es, dass wir uns oft zu sehr auf die Dinge konzentrieren, die wir nicht so gut können – und manchmal die eigenen Stärken nicht einmal kennen?

Anja Wittig: Ich denke, wir sind einfach so sozialisiert. Als Feedback gibt es oft eher die Entwicklungspotenziale und nicht immer Lob, und das bleibt auch eher hängen. Aber Führungskräfte und Unternehmen können enorm dazu beitragen, das zu ändern: Sich Mühe geben, die Stärken einzelner Teammitglieder zu erkennen und diese bestmöglich einzusetzen. Sich aktiv Zeit nehmen für Wertschätzung und Lob – und nicht nur dann, wenn mal was schiefgelaufen ist. Damit wird es auch jedem und jeder einzelnen leichter fallen zu erkennen, wo die Stärken liegen.

herCAREER: Stichwort Role Models – wenn wir zu jemandem aufschauen und bewundern, vergleichen wir uns auch. Und werden so wieder auf unsere Schwächen aufmerksam gemacht. Siehst du das auch so?

Anja Wittig: Ich habe sehr viele Role Models, bei denen ich bestimmte Fähigkeiten bewundere und mir viel abschaue, wie sie an Themen herangehen oder mit Schwierigkeiten umgehen. Ich vergleiche mich aber nicht, denn jede von uns ist individuell, hat unterschiedliche Stärken und Eigenschaften. Deswegen bin ich auch eine große Verfechterin diverser Teams. Je unterschiedlicher ein Team ist, die Hintergründe und Sichtweisen, umso bereichernder ist das für die Arbeit und die Problemlösung. Anstelle von Vergleichen ist es viel sinnvoller zu schauen: Welche Person aus meinem Team kann etwas, das ich nicht so gut kann? Welche Stärken bringt die Person mit?

herCAREER: Inwieweit kann der Blick auf die Stärken auch bei Veränderungen hilfreich sein, die wir ja oft scheuen?

Anja Wittig: Es ist immer bereichernd, die Komfortzone zu verlassen, denn nur so wächst man. Und wer seine Stärken kennt, hat es da deutlich leichter. Denn wenn man weiß, was einem liegt und worauf man sich verlassen kann, ist das wie ein Sicherheitsnetz oder eine Rückendeckung.

herCAREER: Ist es für Frauen schwieriger, die eigenen Stärken zu erkennen und auch zu zeigen?

Anja Wittig: Hier kann ich nur aus meiner eigenen Erfahrung als Frau sprechen. Mir fällt es nicht unbedingt schwerer, meine Stärken zu erkennen, aber diese auch einzusetzen und konsequent zu agieren, ist nicht immer leicht. Ich habe in der Vergangenheit, öfter Projekte und Aufgaben übernommen, wo ich von vorne rein wusste ich werde mich sehr schwertun. Seine Stärke einsetzen, heißt auch „Nein“ sagen. „Nein“ zu den Dingen, die einem überhaupt nicht liegen und mit denen man nicht glücklich wird. Für sich einstehen, laut sein, sichtbar sein; das fällt uns Frauen vielleicht oft nicht so leicht.

Unabhängig von Stärken und Schwächen, gibt es natürlich in jedem Job Aufgaben, auf die man keine Lust hat – die gehören dazu. Genauso wie grundlegende Fähigkeiten, die in jedem Job einfach gefordert sind. Wer in die Beratung will, sollte analytisch, lösungsorientiert und kommunikativ sein. Und wer Köchin werden möchte, benötigt viel Kreativität, einen ausgeprägten Geschmackssinn und Disziplin bei der Zubereitung von Speisen.

herCAREER: Ganz konkret: Welche drei Schritte muss ich gehen, wenn ich einen stärkenbasierten Ansatz umsetzen will, aber mich noch gar nicht so sehr mit meinen eigenen Stärken beschäftigt habe?

Anja Wittig: Ein guter Einstieg ist der Gallup CliftonStrengths-Test, der bei der Definition der Stärken hilft. Es ist aber auch gut, sich eine Woche lang zu beobachten und am Ende jedes Tages zu überlegen: Was ist mir heute leichtgefallen? Welche Tätigkeit hat mir Spaß gemacht? So entsteht am Ende der Woche ein guter Eindruck oder erste Indizien für die eigenen Stärken, die man im nächsten Schritt noch vertiefen oder weiter beobachten kann. Und: aktiv mit Vorgesetzten, in der Uni oder im Praktikum schauen, wie man diese Stärken jetzt umsetzen könnte und in welchen Aufgaben sie zur Geltung kommen. Jede von uns kann zu ihrer Vorgesetzten gehen und sagen: Ich bin extrem gut im Organisieren von Events, braucht ihr bei der anstehenden Veranstaltung noch Unterstützung?

herCAREER: Was bedeutet der Fokus auf die Stärken eigentlich für die Feedbackkultur – muss man Kritik jetzt nicht mehr aushalten?

Anja Wittig: Konstruktives Feedback ist natürlich nach wie vor wichtig. Es gibt ja immer auch schwierige Situationen oder Punkte, wo Erwartungen vielleicht nicht erfüllt wurden. Die muss man auch ansprechen. Der Stärkenansatz heißt nicht, dass ab jetzt Mitarbeitende nur noch machen, worauf sie Lust haben, sondern lediglich, dass man Aufgaben rund um seine Stärken maximiert. Und das ist am Ende ein Gewinn für alle.

Über die Person

Anja Wittig verantwortet als Talent Lead den Bereich Technology Strategie und Architektur bei Deloitte und berät ihre Kunden rund um IT Strategie, IT Organisations-Design und Transformation.