Anne Theiss hat genug davon, wie Politik und Gesellschaft mit Müttern umgehen. In ihrem Buch “Die Abwertung der Mütter” zeigt sie, wie sich Mütter vom sozialen Druck tradierter Rollen befreien können und was es braucht, um ihnen den Wiedereinstieg in den Beruf zu erleichtern. Im Interview erzählt sie, warum die Wirtschaft nicht auf das Potential von Müttern verzichten kann, warum eine verlässliche Kinderbetreuung unverzichtbar ist und was sie das Leben mit einem Kind mit Behinderung gelehrt hat.

„Als Mädchen im Teenageralter musste ich zusehen, wie meine Schwester von der Musterschülerin zur Mutter außerhalb der Norm wurde.“

herCAREER: Anne, über deine Geschwister hast du gesagt: “Wir sind drei Schwestern, die es nicht ‘geschafft’ haben, dem Mütter-, Kinder- und Familienideal zu entsprechen” – wie sehen eure Leben aus?

Anne Theiss: Ich bin die Jüngste von uns dreien. Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich mir einen kleinen Bruder gewünscht. Meine Eltern meinten: Anne, es kommt tatsächlich ein Baby, deine 18-jährige Schwester ist schwanger. Ich habe so schon früh miterlebt, was es mit einer Frau macht, die außerhalb der Norm ein Kind bekommt.

herCAREER: Wie hat deine Familie reagiert?

Anne Theiss: Meine Eltern, selbst meine Großmutter, haben mit Verständnis reagiert, aber ich komme aus einem konservativen Milieu einer schwäbischen Mittelstadt. In der Kirche und in der Stadt wurde getuschelt. Als Mädchen im Teenageralter musste ich zusehen, wie meine Schwester von der Musterschülerin zur Mutter außerhalb der Norm wurde. Später wurde sie alleinerziehend. Wie über sie geredet wurde, empfand ich als große Ungerechtigkeit.

herCAREER: Wie ist es mit deiner anderen Schwester?

Anne Theiss: Unsere mittlere Schwester hat sich gegen Kinder entschieden. Auch zu kinderlosen Frauen hat die Gesellschaft eine Meinung, auch das ist außerhalb der Norm. Kinderlose Frauen scheinen aus tradierten Gründen nicht komplett zu sein.

herCAREER: Inwieweit passt deine eigene Familie nicht in die Norm?

Anne Theiss: Unsere Tochter kam vermeintlich gesund zur Welt, aber im zweiten Lebensjahr hat sich herausgestellt, dass sie das seltene Phelan-McDermid-Syndrom hat. Ich habe also ein Kind mit Behinderung und falle somit aus der Norm. Sie hat inzwischen noch einen Bruder bekommen. – Wir Schwestern ziehen mittlerweile Stärke aus unseren Situationen. Wir unterstützen uns in unserer besonderen Art, Frau zu sein.

herCAREER: Dein Buch trägt den Titel “Die Abwertung der Mütter”. Wie werden Mütter abgewertet?

Anne Theiss: Die Mehrheit der Frauen, insbesondere der Mütter mit kleinen Kindern, möchte mehr arbeiten. Wenn ihnen dafür nicht die benötigte Infrastruktur – wie eine verlässliche Betreuung – bereitgestellt wird, werden sie abgewertet. Mütter können ohne Erwerbsarbeit nur schwer ihre Wünsche umsetzen, ihre finanzielle Unabhängigkeit erhalten und verlieren mit Kindern oft den beruflichen Anschluss.

herCAREER: Wie kann eine Mutter den Anschluss nicht verlieren?

Anne Theiss: Indem sie in Vollzeit oder vollzeit-nah wieder einsteigt, wenn sie das möchte.

herCAREER: Das erste Jahr nach einer Geburt ist für viele Haushalte eine sehr vulnerable Zeit. Was ist mit den Frauen, die nicht gleich wieder einsteigen wollen?

Anne Theiss: Ich plädiere dafür, alle Modelle möglich zu machen. Frauen sollen sich diese Zeit so gestalten, wie sie wollen. Wenn sie zuhause bleiben, aber bitte mit guter Absicherung – auch im Falle einer Trennung. Momentan ist es jedoch so, dass viele Frauen mehr arbeiten würden, wenn die Infrastruktur vorhanden wäre. Aber der soziale Druck in unserem Land bleibt leider hoch, als Mutter die Hauptverantwortung für die Kinder zu tragen.

herCAREER: Ist dieses Buch wirklich nicht nur für Leute, denen Karriere sehr wichtig ist?

Anne Theiss: Dieses Buch ist für Mütter, die die (Entscheidungs-)Freiheit lieben. Ich komme aus einem konservativen Milieu, ich weiß, wofür ich kämpfe. Und ich weiß übrigens auch, wie konservative Unternehmer denken. Meine Hoffnung war, auch diese Unternehmer in der Gleichstellungsfrage mitzunehmen und ihnen klarzumachen, dass sie nicht auf das Potential von Müttern verzichten können. Die Wirtschaft braucht Mütter.

herCAREER: Du hältst also nichts von einer generellen Arbeitszeitreduzierung?

Anne Theiss: Mein Ansatz ist ein pragmatisch-realistischer. Ich plädiere dafür, dass wir uns nicht zu weit von der wirtschaftlichen Realität in diesem Land entfernen. Über Arbeitszeitverkürzungen zu sprechen, während wir einen großen Arbeitskräftemangel haben, geht an der Realität eines Landes ohne Vermögen aus Rohstoffvorkommen vorbei.

herCAREER: Wie wichtig ist dir selbst Karriere?

Anne Theiss: Mir persönlich war es immer wichtig, zu arbeiten. Es ist nicht immer nur spaßig. Aber auch durch die Geschichte meiner ältesten Schwester, die später alleinerziehend wurde, sehe ich meine Arbeit nicht nur als meinen Wunsch, sondern auch als eine Notwendigkeit. Wir müssen jedoch mehr in der Masse denken und es für alle möglich machen, gut zu arbeiten.

herCAREER: Was bedeutet die jetzige Situation für die Wirtschaftskraft des Landes?

Anne Theiss: Das Arbeitskraft-Potential wird nicht abgerufen, das BIP sinkt, aber nicht, weil da nichts mehr zu holen ist. Deutschlands größte Ressource ist Arbeit und es gibt eine Gruppe, die arbeiten will. Aber die Mütter werden nicht ernst genommen, unter sozialen Druck gesetzt. Sie bezeichnen es als “Glück”, einen Kita-Platz für ihr Kind zu bekommen, wobei das eine Selbstverständlichkeit sein sollte.

herCAREER: Inwieweit klaffen Mutter-Ideal und Mutter-Realität auseinander?

Anne Theiss: Ich denke, hier handelt es sich um einen Generationenkonflikt. Heute ist das Ideal: Mütter bleiben finanziell unabhängig, können arbeiten, ihnen wird ihre individuelle Entscheidung ermöglicht, kurz: die Unabhängigkeit der Frau. In den älteren Generationen herrscht oft ein traditionelles Mutterbild vor. Wenn es um die Vereinbarkeitsfrage geht, sagen ältere Frauen oft: “So schlimm war es ja auch nicht!” – das ist eine grobe Verzerrung. Es hat bestimmt auch etwas mit Privilegien zu tun, wenn man es “einfacher” geschafft hat. Junge Frauen werden für ihren Wunsch, zu arbeiten, von dieser Generation oft abgewertet. Diese Generation hat aber über Jahrzehnte wichtige Dinge wie den Kita-Ausbau verschlafen, obwohl sich schon sehr lange ein gesellschaftlicher Wandel abgezeichnet hat.

herCAREER: Bei der letzten Bundestagswahl waren 58,1% der Wahlberechtigten älter als 50 Jahre. Das heißt, die wirtschaftliche und politische Macht liegt maßgeblich bei den Älteren. Wie kann sich die jüngere Generation Gehör verschaffen?

Anne Theiss: Wir müssen uns klarmachen: Es geht hier nicht um Befindlichkeiten, es geht darum, diesen Staat am Laufen zu halten. Das sollte eigentlich Argument genug sein. Es braucht eine gewisse Kaltschnäuzigkeit. Wir sind im Recht. Wir sehen die Zahlen, wir können einschätzen, was wir für uns als Familie brauchen, als Vater und als Mutter. Ich bin sehr optimistisch, dass sich hier gesellschaftlich etwas ändern wird.

herCAREER: Warum dauert das so lange?

Anne Theiss: Wenn wir noch mal auf die Generationen zu sprechen kommen, spielt Kränkung eine Rolle. Man gibt nicht gerne zu, dass selbst gelebte Modelle falsch waren oder es zumindest auch anders geht. Es braucht einerseits eine große Sensibilität in der Sprache, andererseits aber eine kompromisslose Klarheit.

herCAREER: Was macht es jungen Frauen heute schwer, Beruf und Familie zu vereinbaren?

Anne Theiss: Wie selbstverständlich wird jungen Frauen heute mitgegeben: Du kannst alles haben. Und dann werden sie Mutter und es wird nicht nur wirtschaftlich schwieriger, dabei zu bleiben, wie man möchte, sondern auch sozial. Sie werden in Frage gestellt. Ich zitiere gerne Belén Garijo, die CEO von Merck. Diese Frau hat die ganze Welt gesehen. Und in Deutschland sagt sie: „Der soziale Druck, dem die Frauen hier ausgesetzt sind, ist höher als überall sonst.“

herCAREER: Hast du diesen sozialen Druck selbst gespürt?

Anne Theiss: Ja, ich weiß, was Übergriffigkeit bei mir anrichtet, wie sie mich verletzt und verunsichert. Wenn meine Art, Mutter zu sein, angezweifelt wird oder ein dummer Spruch von der Seite kommt à la “So früh wieder arbeiten?!” Nach der Geburt meines Sohnes bin ich nach vier Monaten wieder vollzeit-nah eingestiegen. Da mein erstes Kind eine Behinderung hat, sah man mich zudem schon davor als Mutter in der Hauptverantwortung der Pflege. Mein Partner war auf meiner Seite, aber klar hat es auch hier Auseinandersetzungen gegeben. Auch wir haben erlebt, wie tief unsere Muster sitzen.

herCAREER: Wie kann man als Paar unter enormem Druck bestehen?

Anne Theiss: Wenn es irgendwie geht, sollten sich Paare immer wieder Freiheiten schaffen. Es lohnt sich, in regelmäßigen Abständen zu fragen: Wo stehen wir? Gerade nach besonders fordernden Jahren. Familie und Partnerschaft sind immer ein Kompromiss. Es schadet nicht, wenn auch die Männer mal ein paar Kompromisse mehr schließen müssen. Beispiel Elternzeit: Wir wissen, dass sich für eine gleichberechtigte Verteilung von unbezahlter Arbeit erst etwas tut, wenn Väter mindestens drei Monate Elternzeit nehmen.

herCAREER: Was wird in unserer Gesellschaft nicht mitgedacht, wenn Eltern Kinder mit Behinderung bekommen?

Anne Theiss: Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Perfektionsdrang sehr groß ist, vor allem für Frauen. Wir sollen möglichst lange leben, möglichst gut dabei aussehen und immer gesund sein. Ich glaube nicht mehr daran, dass, wenn wir nur den richtigen Smoothie trinken und 10.000 Schritte am Tag gehen, alles gut wird. Ich finde, “Hauptsache, das Kind ist gesund!” ist ein schrecklicher Satz, und würde ihn mit “Hauptsache, das Kind wird geliebt!” ersetzen. Ein Kind mit Behinderung zu bekommen, ist heutzutage schwer, weil es überhaupt nicht in den Trend passt, der Perfektion und ewiges Leben propagiert.

herCAREER: Wie war dein Weg, deine Situation zu akzeptieren?

Anne Theiss: Meine Tochter hat meinen eigenen Narzissmus hinterfragt und tut es stetig. Ich achte zwar auf meine Gesundheit, aber ich weiß, dass morgen alles anders sein kann. Ich will das Schicksal meiner Tochter nicht schönreden, aber durch sie habe ich gelernt, jeden Tag so zu nehmen, wie er ist. Und dadurch erstaunlicherweise auch sehr viel geschafft. Es gibt kein Leben ohne Krankheit. Jede:n von uns wird es auf unterschiedliche Weise treffen. Wenn man das akzeptiert, wird vieles erstaunlicherweise wieder einfacher.

herCAREER: Hast du Frieden geschlossen mit deiner Situation?

Anne Theiss: Es fühlt sich manchmal so an, als säßen wir am Ufer eines Gewässers auf einer eigenen Wiese. Dort sind wir nicht allein, es gibt viele Familien mit besonderen Kindern. Am anderen Ufer ist das Leben der „normalen” Familien. Dort geht alles etwas schneller. Ich stelle mir aber die Wiese, auf der wir sitzen, als nicht weniger blühend vor. Natürlich schiele ich manchmal ans Ufer der Familien mit gesunden Kindern und fühle mich abgehängt und abgewertet. Meine Art damit umzugehen ist, offen darüber zu sprechen und auch den Finger in die Wunde zu legen, was gesellschaftlich schiefläuft.

herCAREER: Du hast geschrieben: “Mütter müssen ihre Kleinkriege sein lassen und das große Ganze in den Blick nehmen: die Gesellschaft, die Wirtschaft sowie den Staat.” Warum ist es wichtig, dass wir uns als Mütter – und als Frauen – mit dem größtmöglichen Verständnis begegnen?

Anne Theiss: Wenn wir Verständnis für die individuellen Lebenswege von Frauen haben, können wir in den großen Fragen viel besser zusammenstehen. Ich hoffe, wir Frauen halten immer mehr zusammen, weil es zunehmend politische Strömungen gibt, die versuchen, tradierte Frauenbilder wieder in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Abwertung und Übergriffigkeit geschehen nur, wenn wir nicht bei uns sind. Es ist immer besser, selbstbewusst, befreit von jeglichen Normen den eigenen Weg zu gehen. Im Prinzip wie wir drei Schwestern – wir leben in ganz unterschiedlichen Settings, was uns aber nicht davon abhält, uns zu unterstützen.

Das Interview führte herCAREER Chefredakteurin Julia Hägele. 

Über die Person

Anne Theiss, geboren 1984 in Aalen, auch bekannt als „Schwäbisch-Sibirien“, studierte Politische Wissenschaft mit den Nebenfächern VWL und Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ab 2011 absolvierte sie die Burda-Journalistenschule und arbeitete unter anderem für BUNTE.de und FOCUS. 2013 wurde sie Referentin von Dr. Hubert Burda.

2015 kam ihre Tochter mit dem seltenen Phelan-McDermid-Syndrom zur Welt. 2022 folgte ein Sohn. Im September 2023 erschien ihr Buch „Die Abwertung der Mütter – wie überholte Familienpolitik uns den Wohlstand kostet“ bei Droemer Knaur.