Unterschiede anzuerkennen, heißt, Menschen für das zu sehen, was sie sind – und macht die Welt gerechter. Oder?

Unterschiede haben keinen guten Ruf: Sie stehen für Abgrenzung, für Privilegien. Sie scheinen das Gegenteil von Gleichheit und Gleichberechtigung zu sein. Doch Wolf Lotter hält in seinem Essay dagegen: Unterschiede bedeuten auch Diversität, Vielfalt, Divergenz, Unterscheidungsfähigkeit, Multikulturalität, Auswahl, Alternative, Handlungsoption und vieles mehr. Unterschiede sind, so Lotters These, die entscheidende Kraft, die Kulturen entstehen lässt.

Mit der Journalistin und Podcasterin Susanne Klingner erörtert er seinen vielschichtigen Begriff von Unterschiedlichkeit.

Thema

Wirtschaft, Arbeit & New Work | Gesellschaft

Angaben zur Referent:in

Wolf Lotter ist seit den 1980er-Jahren Autor und Journalist mit dem Schwerpunkt Transformation und Innovation. Er war u.a. Ressortleiter für Reportagen bei „New Business“, Redakteur bei „Cash Flow“ und dann bei „profil“ direkt der Chefredaktion unterstellter Redakteur mit dem Themenschwerpunkt Digitales. Für „profil“ baute er die Wissenschaftsredaktion auf und begründete die Digitalkolumne „Cyberrama“. Seine Bücher gelten als Grundsatzwerke in Sachen Innovation und Transformation.

Der Beitrag wurde im Rahmen der herCAREER-Expo 2022 aufgezeichnet und als Podcast aufbereitet.

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00:00:11-5 Moderation: Herzlich willkommen zum herCareer Voice Podcast, Du bist hier richtig, wenn Du diverse und vor allem weibliche Perspektiven auf arbeitsmarktpolitische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Themen hören willst. Lerne dabei von Role Models, Expert:innen und Insidern und nimm wertvolle Anregungen für Deine eigene Karriereplanung mit. Mit herCAREER Voice fangen wir vielfältige Sichtweisen ebenso wie ganz persönliche Einblicke und Erfahrungen spannender Frauen ein – von der herCAREER-Expo live und aus der herCAREER-Community.

00:00:44-0 Moderation: Unterschiede anzuerkennen heißt, Menschen für das zu sehen, was sie sind und macht die Welt gerechter, oder? Unterschiede haben keinen guten Ruf. Sie stehen für Abgrenzungen, für Privilegien. Sie scheinen das Gegenteil von Gleichheit und Gleichberechtigung zu sein. Doch Wolf Lotter hält in seinem Essay dagegen. Unterschiede bedeuten auch Diversity, Vielfalt, Divergenz, Unterscheidungsfähigkeit, Multikulturalität, Auswahl, Alternative, Handlungsoption und vieles mehr. Unterschiede sind, so Lotters These, die entscheidende Kraft, die Kulturen entstehen lässt. Mit der Journalistin und Podcastern Susanne Klingner erörtert er seinen vielschichtigen Begriff von Unterschiedlichkeit. Lotter ist seit den 1980er Jahren Autor und Journalist mit dem Schwerpunkt Transformation und Innovation. Er war unter anderem Ressortleiter für Reportagen bei New Business, Redakteur bei Cashflow und bei Profil. Dort baute er die Wirtschaftsredaktion auf und begründete die Digitalkolumne Cyberama. Seine Bücher gelten als Grundsatzwerke in Sachen Innovation und Transformation.

00:02:04-1 Susanne Klingner: Wann und wie hat dich das Thema Vielfalt gepackt und warum?

00:02:08-3 Wolf Lotter: Also das gehört, wenn man sich mit Transformation von der Industrie zur Wissensgesellschaft beschäftigt, beschäftigt man sich im Grunde genommen mit dem Unterschied, im sozialen gesprochen, von der Massengesellschaft zur Person. Das geht zum Individuum, es geht zum Individualistischen, es geht zum Personalisierten, es geht zum Unterscheidbaren. Und das wirtschaftliche und ökonomische System, das wir haben, und auch das gesellschaftliche System ist natürlich ein Massensystem, das im 19. Jahrhundert so richtig harte Konturen gekriegt hat und in dem wir auch denken. Und deshalb war es eigentlich immer da das Thema. Es war nur nicht unter Begrifflichkeit Diversity da, also der englischen Bezeichnung für Vielfalt, ja. Da war es nicht da, da kam es erst vor einigen Jahren in die Diskussion, was sehr sehr gut ist, weil wir jetzt die Möglichkeit haben, darüber zu reden, wie sich Menschen unterscheiden im positiven Sinn und nicht im negativen. Wir haben immer das Gefühl, Unterschiede sind schlecht. Ja, es gibt schlechte Unterschiede, das stimmt, aber es gibt auch gute Unterschiede, wo wir Einzelgerechtigkeit herstellen können, Individualität herstellen können und tatsächlich unterschiedlichen Lebenslagen gerecht werden können. Und das lernen wir gerade ganz auf die harte Tour, aber wir lernen es.

00:03:20-5 Susanne Klingner: Und wenn du sagst, es war immer eigentlich schon so da, gerade auch bei den Themen, die du bearbeitet hast, gab es dann trotzdem so einen Moment, wo du gesagt hast, okay das gucke ich mir jetzt mal genauer an? Weil es muss ja einen Grund haben, dass du dann doch, wieviel, 300 Seiten darüber geschrieben hast.

00:03:37-0 Wolf Lotter: Mehr als es sein sollten übrigens, was eine gewisse intellektuelle Faulheit ist, wenn man so lange schreibt. Ich habe „Unterschiede“ gedacht als drittes Buch einer Serie, die ich bei der Edition Körber gemacht habe. Das erste war „Innovation“, wo ich mich mit der Frage beschäftigt habe, was ist Innovation eigentlich, von dem alle so locker reden? Ist es ein technischer Prozess, ist es was neues oder geht es um soziale und kulturelle Innovation? Also der Blick auf Erneuerung und Veränderung. Das zweite Buch heißt „Zusammenhänge“, ist der zweite Band dieser Reihe, dieser Wissensgesellschaft-Trilogie, wenn man es sehr großspurig sagt. Und „Zusammenhänge“ dreht sich eigentlich um die Frage, wie wir mit Komplexität umgehen oder nicht umgehen. Also da steckt schon die Frage der Vielfalt drin. Die Lösung, die wir immer haben, ist ja, dass wir sagen, Vielfalt ist toll, aber Komplexität ist schlecht und wer das eine will, muss das andere kaufen. Das heißt, wir müssen aufhören zu glauben, dass wir Komplexität reduzieren können und sagen, wir streichen das jetzt alles zusammen und dann haben wir ganz wenig und dann ist es übersichtlich und dann ist es toll. So funktioniert es nicht. Wir müssen lernen, uns zu entscheiden in dieser Welt. Das heißt, nicht alles zu haben, ja das stimmt schon, aber rauszukriegen, was für uns richtig ist. Und das muss ich dann wieder in meinem persönlichen Kontext sehen und das sind die Zusammenhänge. Und der Begriff, den ich benutze, heißt Kontextkompetenz. Das heißt, das ist eigentlich so street smart, das ist kein Methodenbegriff, sondern da geht es einfach ∂rum zu sehen, was kann ich in diesem Leben machen, was hat mit mir und anderen zu tun, wie kann ich mein Wissen teilen? Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wie kann ich mich verständlich machen? Wie kann ich mich mit anderen in Netzwerken zusammenfinden? Und wenn ich das mal geschrieben habe, so wie es in „Zusammenhänge“ ist, steht eigentlich Diversity und Unterschiede an. Da musst du noch einmal sozusagen darüber reden, was eigentlich unser kulturelles, unser rechtliches, unser politisches Bild von Differenz ist oder genauer gesagt was es nicht ist. Und was auch zu überwinden ist und zu diskutieren ist, um echte Diversity herzustellen.

00:05:46-2 Susanne Klingner: Aber wie würde denn echte Vielfalt, echte Diversity aussehen? Also du hast ganz sicher, magst du mal skizzieren so dieses Ideal, gerade eben im Abgleich mit wie wir es heute haben. Also Vielfalt schön und gut, aber zu komplex soll es nicht sein.

00:06:02-0 Wolf Lotter: Genau, also wenn ich von Einzelgerechtigkeit spreche, meine ich, dass wir auch einen gesetzlichen, einen rechtlichen Rahmen brauchen, der uns Luft gibt, einzelne Menschen in ihrer Lebensbefindlichkeit, in der Lebenssituation, in der sie stecken, eine Möglichkeit zu geben, Freiräume zu haben und die auszunutzen. Wobei Freiräume heißt, dass du eben nicht in ein System gepresst bist, wo du von 9-19 arbeiten musst oder von 9-17 Uhr und nicht zurechtkommst mit unterschiedlichen Lebensläufen. Das hat mit Kindern zur tun, mit Partnern zu tun, mit Krankheiten zu tun, das hat aber auch mit Bildung zu tun, mit der Lust, etwas mal nicht machen zu müssen. All das ist nicht vorgesehen in unserem Sozialsystem, es ist nicht vorgesehen in unserem Tarifvertrag, es ist nicht vorgesehen in der Berufswelt. Das heißt, um genau zu sein, in den letzten 50 Jahren haben wir unmerklich eine ganze Menge an Ausnahmeregelungen dazu gekriegt, die uns eigentlich wahnsinnig stören, wenn es andere betrifft. Und die sind ja alle nur ein Reagieren auf diese Vielfalt. Das heißt, wir haben eine ungeheure Compliance entwickelt, verstehen die aber kulturell nicht. Also die Vielfalt der anderen ist immer eine Störung und die Vielfalt, die ich selber will, ist immer klasse. Jetzt brauchen wir sozusagen Ideen, wie wir damit umgehen können und das sind natürlich dann die Fragen von Toleranz, eine neue Form von Toleranz, die nicht einfach nur sagt, okay lass es irgendwie zu, ist mir doch Wurscht, sondern tatsächlich die Teilnahme daran, dass wir gemeinsam etwas erreichen, gemeinsam etwas bewegen wollen, gemeinsam auch was verändern wollen und darüber anders reden müssen als bisher. Das ist ein anderer Blick drauf.

00:07:36-9 Susanne Klingner: Aber wie du schon sagst, ist natürlich das System eigentlich ganz anders. Also es gibt diese ganzen Ausnahmereglungen, aber die wertschätzen ja jetzt eigentlich nicht das Anderssein, die Unterschiede, sondern nimmt sie gerade so hin und verwaltet sie quasi. Man müsste ja eigentlich komplett neu ansetzen. Also eigentlich müsste man alles niederreißen und neu aufbauen, aber kann man natürlich nicht. Wie kann man denn dann ansetzen, umdenken, dass Leute, die dieses System machen, das sind die Menschen selber, was wir an Politik drumrum haben, es sind Unternehmen ja auch, dass man da wirklich … also wie kann man da ran an den Speck?

00:08:16-4 Wolf Lotter: Also ich glaube, das Momentum, das Kraftfeld, in dem wir uns bewegen, ist der Anspruch auf Freiräume, die wir ja haben, das ist eine Wohlstandserscheinung. Das heißt, wir sind nicht mehr die, die alles mitmachen, das ist gut so. Das heißt, wir fordern was, wir wollen Freiräume haben, wir wollen selbstbestimmt arbeiten, selbstständig arbeiten. Und wenn ich selbstständig sage, ist schon der Übergang da zur nächsten Geschichte, nämlich auch eigenverantwortlich. Und dann fängt sozusagen die Pflichtenliste an. Das ist ziemlich anstrengend. Also es ist nämlich die Zeit vorbei, wo eine Chefin oder ein Chef dir einfach sagt, was du zu tun hast. Das kann nämlich extrem toll sein. Also wenn man sich in einer Kultur zurechtfindet, wo man einfach gesagt kriegt, was zu tun ist, dann kann man immer sagen, der ist schuld, die ist schuld, ich kann nichts dafür, ich kann da nicht raus, das System ist so. Und wir verändern viel zu langsam, was eigentlich schneller verändert werden müsste, um mehr Einzelgerechtigkeit herzustellen. In Wirklichkeit bauen wir diese ganzen Vehikel extrem langsam um. Als die ersten Fahrzeuge auf vier Rädern kamen, waren das so riesige Dampfmaschinen auf Kutschen. Da sind die mal durch die Gegend gefahren und dann hat es relativ lange gedauert, bis man verstanden hat, dass man das anders machen kann und heute wissen wir, dass Mobilität noch ganz ganz was anderes ist, als bloß Elektroautos zu bauen. Sondern darüber zu reden, wie kommen wir klug von A nach B oder müssen wir eigentlich so oft eigentlich wohin? Wir haben ja Netzwerke. Also wir erweitern unser Denken. Und so funktioniert das mit Unterschiedlichkeit auch. Also mit dem Anspruch, dass man Einzeldienst machen kann, auf allen Ebenen der Arbeit. Und wir sehen ja, wieviel möglich wurde, ich habe das Buch geschrieben während der Pandemie, als die anfing, und da war noch nicht abzusehen, was alles geht. Wir haben heute, ich behaupte, eine bessere Arbeitswelt als vor drei Jahren. Weil sehr viele Unternehmen sagen, okay, ich lebe mit Homeoffice, ich lebe mit dislozierter Arbeit, ich lebe mit Coworking. Da gehört noch wahnsinnig viel dazu. Also Akzeptanz von Selbstständigkeit beispielsweise, das ist in Deutschland noch viel, viel, viel zu weit hinten. Das ist auch so eine Untertanengeschichte. Aber auch das ändert sich mit den Ansprüchen. Je mehr Leute gut ausgebildet, Selbstbestimmung fordernd im Beruf sind, desto stärker verändert sich das. Das erleben wir alle noch, sogar ich.

00:10:38-5 Susanne Klingner: Aber ist es sehr optimistisch gedacht? Weil man hat natürlich jetzt ganz viele Leute, die sagen, ich möchte selbst verantwortlich sein. Die zufriedensten Arbeiterinnen und Arbeiter sind ja die, die einen Verantwortungsbereich haben, in dem sie auch einen Einfluss haben, wo sie sehen, was ist der Wert ihrer Arbeit. Und dann gibt es aber eben noch die Chefs oben drüber, die das zugestehen müssen. Das eine ist ja, dass ich das möchte, die anderen müssen es zugestehen. Nach der Pandemie gibt es genug Chefs, die froh sind, ihre Leute wieder ins Büro zitieren zu können. Wie kriegt man die denn? Also welche Argumente kann ich denn denen zum Beispiel hinlegen, wenn ich jetzt sage, okay ich will das jetzt in meinem Unternehmen tatsächlich aktiv verändern, dass die sagen, das ist tatsächlich eine gute Idee.

00:11:23-2 Wolf Lotter: Also klassisches Management ist in der Industrie so geschult worden, dass es sozusagen Menschen abrichtet. Ich sage das jetzt ganz ungeschminkt. Der Begriff Manager kommt von Manege, wo man wilde Tiere im Zirkus vorführt. Das ist nicht besonders freundlich. Und wenn ich diese Manege verlassen möchte, brauche ich andere Führung. Ich brauche eine Führung, die verstanden hat, dass Leadership etwas ist, wo ich Menschen etwas ermöglichen muss, damit ich selbst auch davon profitiere. Und ermöglichen heißt schlicht und ergreifend, wie kommst du mit dieser Work-Life-Balance und weit darüber hinaus, ich mag das Wort nicht so gern, weil es schon zwei Dinge aufteilt, die eigentlich zusammengehören, wie kommst du zusammen mit deiner Arbeit, mit dem was du tust, was du im Leben möchtest, insgesamt was hält dich auf, was behindert dich. Da leben wir in guten Zeiten gerade, das müssen wir auch ausnutzen. Das heißt, richtig Druck machen. Viele viele Arbeitgeber suchen heute natürlich Leute und sind bereit, wahnsinnig viel zu machen. Davon wird sicherlich einiges wieder rückgängig gemacht, wenn die Zeiten wieder härter sind und deshalb muss man richtig progressiv sein, richtig hart verhandeln, richtig mutig sein und sagen, das will ich, das will ich, das will ich. Bloß keine kleinen Brötchen backen heute. Das geht auf die eigenen Kosten und auf die Kosten anderer. Und wenn man wirklich solidarisch handelt in der Arbeitswelt, dann sind wir heute super dreist, was die Ansprüche angeht. Das würde ich allen wirklich raten. Schreibt euch das auch immer auf und sagt, nein noch eins. Und Selbstbestimmung ist das entscheidendste, weil Selbstbestimmung dafür sorgt, dass sich Manager auch ändern müssen endlich mal, und nicht mehr diese Vorstellung haben, die so lange im Management geherrscht hat, die arbeiten bloß das auf, was ich gerade nicht kann. Das ist diese alte Gutsherrenmentalität. Oben weiß man, was zu geschehen hat und unten wird ausgeführt. Und wenn du viel Geschäft hast, dann musst du einfach irgendwann mal jemanden haben, der dir hilft. Also jede Mitarbeitende, jeder Mitarbeiter, das sind ja diese Hilfsarbeiter, wie man früher mal gesagt hat, immer noch im Bewusstsein vieler. Und da sage ich ein lautes Nein. Die Leute sind so gut, so ausgebildet, haben Ansprüche darauf, es selbst zu schaffen, dass sie deine Mitunternehmer sind. Und das ist das, wo wir hin müssen. Wir brauchen das Bewusstsein, dass wir eigentlich nicht mehr in Konzernen mit Hierarchien arbeiten und Unternehmern, wo oben jemand ist, der Bescheid weiß, sondern dass wir alle das tun, was wir am besten können. Peter Drucker hat vor 50 Jahren, 50 Jahre, hat der gesagt, was ist Wissensarbeit? Wissensarbeit bedeutet, dass Wissensarbeitende von ihrer Arbeit mehr wissen als ihr Chef. Vor 50 Jahren. Und wir wissen das auch. Wir wissen, was wir tun müssen, wir wissen, was zu tun ist, wir müssen es nur noch machen. Keine Angst. Das ist das wichtigste.

00:14:05-4 Susanne Klingner: Man hat natürlich extrem gute Karten, wenn man jetzt Facharbeiter, Facharbeiterin ist, die gesucht werden händeringend, wo dann Chefs oder Unternehmen auch so Zugeständnisse machen. Also wenn ich da ankomme mit A, B, C, das will ich alles und wie du sagst, dreist bin, aber was mache ich jetzt, ich weiß jetzt keine Branche, aber wo es Überfluss gibt oder …

00:14:27-9 Wolf Lotter: Journalismus beispielsweise.

00:14:32-2 Susanne Klingner: Journalismus ja. Oder noch schlimmer ist es ja, wenn wir in Dienstleistungsberufen sind, wo wir eigentlich alle wahnsinnig abhängig von diesen Menschen und ihrer Arbeit sind, aber es halt null anerkannt wird und sie keine Forderungen stellen können. Wie können wir da dann so einen Hebel ansetzen? Können wir da auf die Politik irgendwie setzen oder Solidarität über die Branchen hinaus?

00:14:56-1 Wolf Lotter: Ich glaube, dass Branchen sich verändern, wenn Teile der Branche sich verändern. Mir ist das völlig klar, wenn ich jetzt zum Beispiel jemanden habe, der leicht ersetzbar ist. Also das klassische Mitarbeitermuster in diesen billigen Dienstleistungsberufen, einfachen Dienstleistungsberufen, ist ja, du bist so lange hier, so lange es keine Maschine gibt für dich. Das ist also die Fortsetzung des Industrieproletariats von früher. Du bist so lange am Fließband, so lange es noch keine Maschine gibt, die dich ersetzen kann. Das müssen wir völlig moralfrei jetzt mal sehen, das ist so, Automatisierung passiert. Aber gleichzeitig hat sich in all diesen Unternehmen bei denen, die geblieben sind und nicht am Fließband waren, hat es sich natürlich so entwickelt, dass die mehr Bildung gehabt haben, mehr Einkommen gehabt haben, dass sich das Einkommen verfünfzigfacht hat in der Zeit der industriellen Revolution. Damit auch der Einfluss und die Möglichkeiten eines durchschnittlichen Westeuropäers. Das ist gewaltig. Und aus dem raus, aus dem was sich in der Firma vielleicht oben und in der Mitte heute verändert, was sich bei einer Entwicklerin verändert, die nachgefragt ist, verändert sich auch letztlich zum Teil, nicht so krass, aber zum Teil auch bei jemandem, der in der Verpackung arbeitet oder Hamburger dreht. Da will ich jetzt aber auch nicht hyperoptimistisch sein. Es ist so, dass wir in dieser Transformation, die auch eine Automatisierungswelle ist, die wir gar nicht stoppen können und vielleicht auch gar nicht sollen, unglaublich viel Arbeit überflüssig wird, so wie in anderen Transformationswellen auch. Dazu brauche ich ein neues Sozialsystem. Jetzt mache ich eine große Kiste auf, in jedem meiner Bücher sage ich, wir brauchen ein Grundeinkommen. Wir brauchen das Grundeinkommen, egal aus welcher politischen Sichtweise her. Das ist völlig egal, das ist kein linkes und kein rechtes Thema, kein liberales und konservatives Thema. Das Grundeinkommen ist die Frage, wie wir dieses Sozialsystem, das zutiefst ungerecht ist heute, und nur die Menschen, die in Vollerwerb sein können, bevorzugt und das lebenslang in einem alten industrialistischen Muster aus dem 20. Jahrhundert, dass dieses Modell überflüssig und überholt ist. Das gilt für die Rente, das gilt für die Krankenversicherung, das gilt für alles, was Basisabsicherung ist. Da muss man reden. Und wer sich dagegen wehrt, ist, jetzt sage ich ein ganz furchtbares Wort für jemanden, der so lange Wirtschaftsjournalist ist schon, ist in der Tat reaktionär, da stimmt der Begriff mal. Weil es tatsächlich Lebesnmöglichkeiten anderer Menschen verhindert. Das ist schlechte Politik. Und man muss sich zusammensetzen. Ich finde, wenn so die Wirtschaftsliberalen sollen sich mal Thomas Strauper anhören. Thomas Strauper hat großartige Bücher zum Grundeinkommen geschrieben und sagt, wenn ihr eure Marktwirtschaft behalten wollt, dann müsst ihr ein Grundeinkommen etablieren, sonst seid ihr weg vom Fenster. Und wenn man sich ansieht, wie schwierig es ist mittlerweile, in welchen Notlagen Menschen sind und gleichzeitig wie nachgefragt Bildungseliten sind ganz bestimmte, musst du das einfach machen. Du musst auch ein Bildungsgrundeinkommen haben, wo du dich weiterbilden kannst, so wie das die Liberale Moderne in Berlin fordert. Ganz vernünftige Geschichte. Möglichkeiten aufmachen und eine Plattform, die für alle gleich ist. Damit Unterschiede wachsen können, brauche ich klare Fundamente, das ist kein Widerspruch.

00:18:05-5 Susanne Klingner: Tatsächlich hätte ich jetzt auch die Brücke geschlagen, dass das Grundeinkommen ja eigentlich tatsächlich ermöglicht, diese Unterschiede bewusst sichtbar zu machen, also dass ich zum Beispiel den Raum habe, mich nicht nur als Angestellte zu sehen, die Aufgabe A-Z zu erledigen hat, sondern zu überlegen, was kann ich denn eigentlich gut, was mache ich gut? Insofern wäre das Grundeinkommen halt einfach extrem revolutionär und wird vielleicht auch deshalb nicht eingeführt, um das mal so pessimistisch zu sagen. Weil wir brauchen natürlich diesen Freiraum, erst mal zu erkennen, was möchte ich denn überhaupt mit meinem Leben, welcher Unterschied zu anderen macht mich denn besonders wertvoll und welche Bedürfnisse habe ich überhaupt? Weil vermutlich unterdrücken die meisten Menschen ihre eigentlichen Bedürfnisse, um ins System zu passen oder?

00:18:50-0 Wolf Lotter: So ist es ganz genau. Also das sehe ich ganz genau so. Und es nimmt sogar noch zu. Also es sieht so aus, als ob alles ganz wunderbar ist für eine kleine Gruppe. Gut ausgebildete nachgefragte Frauen und Männer am Markt, aber für die anderen da ist es eben so, Pech gehabt. Und da muss man einfach sagen, so muss das nicht laufen. Es kann ganz anders funktionieren. Allerdings muss Politik aufhören, das als Geschäftsmodell Nummer 1 zu verkaufen. Was wir ja immer erleben ist, dass Politik und da sind die alle Profis, egal in welchem Spektrum, uns verkauft, dass es sich in Notlagen (die sie manchmal auch mutgeschaffen haben und erhalten haben), uns dann helfen. Und zwar so, dass wir uns selber nicht helfen können, also sie gewähren eine Hilfe, eine Sonderhilfe, einen Zuschuss, da kriegst du ein bisschen Kohle für die Energie, du kriegst ein bisschen Kohle für Hartz IV und dann gibt es das Bürgergeld, das eigentlich Hartz IV ist, aber anders heißt, weil es netter klingt. Und lauter so Dinge, die aber immer Bedingungen haben, Abhängigkeiten schaffen, die nicht Freiräume schaffen, wo ich sage, hier hast du einfach Geld und hier hast du eine Wohnung jetzt versuche mal, dein Leben auf die Reihe zu kriegen, was du sowieso hinkriegen würdest, wenn du nicht rundum sozusagen abhängig wärst von Systemen, die sagen, mach dies, mach das, mach jenes. Also es gibt eine ganze Menge Leute, gerade die Leute, die auf dem zweiten Bildungsweg sich dann fortbilden, sind also bei mir in meiner Lebenserfahrung die tollsten Leute, weil die wissen, was sie wollen. Und die haben aber keine Chance in dem System, weil wenn du mal im Job bist und alles bezahlen musst und auch noch Familie hast, kommst du keinen Schritt weiter. Dann kannst du zwar an die Uni gehen, aber du schaffst es nicht. Und das hat nichts mit dem Kopf zu tun, sondern mit dem System, das eigentlich Menschen möchte, um die man sich kümmern kann. Das ist eigentlich das Geschäftsmodell. Und kümmern finde ich als Geschäftsmodell ziemlich fies. Ich finde es gut, wenn man sich um Menschen kümmert, die Hilfe brauchen, aber das ist unser Job, wenn Parteien anfangen, Situationen zu schaffen, wo du nicht mehr rauskommst, ist es einfach fies, das ist einfach unethisch. Und da müssen wir auch mal sagen, da müssen wir die Forderung haben, das muss sich ändern.

00:20:58-9 Susanne Klingner: Also es sind ja dann im Prinzip so drei Mächte in unserem Leben. Also wir selbst, wenn wir uns im Weg stehen, so Selbsterkenntnis und dann aber die Politik und dann die Unternehmenstopetagen.

00:21:10-1 Wolf Lotter: Genau.

00:21:12-6 Susanne Klingner: Wie ändere ich das, an mich selber ja kann ich rangehen, aber wie ändere ich, wenn ich nicht eben in der Lage bin, ich bin jetzt die gefragteste, die die unbedingt haben wollen und ich sage, ich komme nur zu euch ins Unternehmen, wenn ihr alles komplett auf den Kopf stellt, und Politik ist ja noch mal weiter weg im Prinzip. Da haben wir ja nur die Wahlurne, aber wie kann man dieses System denn wirklich dann erschüttern?

00:21:36-9 Wolf Lotter: Erstaunlicherweise, wenn man auf lange Sicht draufguckt, wird es noch massiv erschüttert. Denn die neuen Parteien, die wir haben, die da mitspielen, vor allen Dingen bei den Grünen ist es deutlich zu sehen, sind ja Parteien, die gesagt haben, so geht das nicht weiter. Es geht mit der Industrialisierung so nicht weiter, es geht mit der sozialen Struktur so nicht weiter und und und. Natürlich machen die wahnsinnig viele Kompromisse, das sehen wir auch. Aber diese Bewegung, die da reingekommen ist, ist natürlich die, dass man sagt, oh Vorsicht, das könnte uns was kosten, bei den anderen Parteien. Also diese klassischen industrialistischen Volksparteien sind enorm unter Druck. Dann gibt es natürlich den rechten Rand, über den müssen wir jetzt nicht diskutieren. Das ist sozusagen immer dieser Ausbund an Populismus, den wir gar nicht verhindern können und das hast du immer an den politischen Rändern. Aber in der großen, großen Mitte, die ja tatsächlich Politik macht, geht es heute darum, dass die schon verstanden haben, dass nicht mehr alles geht. Die Frage ist jetzt nur, sagen wir, danke, dass du uns das schenkst, lieber Staat oder sagen wir, wir haben Forderungen. Und diese Forderungen bestehen jetzt nicht mehr darin, dass wir bloß, ich sage jetzt mal, 200 Euro mehr kriegen im Monat oder dass ich ein schöneres Büro kriege und eine Gummipflanze und ein Jahr früher in Rente gehen kann, sondern diese Forderungen bestehen darin, dass ich ein Leben führen kann, in dem ich arbeite, ohne dass ich mich für diese Arbeit innerlich zerreißen muss. Dass ich mich ständig fragen muss, wo ist meine Familie und wo ist meine Arbeit? Was ja für Millionen Menschen jeden Tag zur Diskussion steht. Das kann nicht sein. Und wenn wir diesen Hebel mal reinbringen und diese Grundforderung mal reinbringen und nicht locker lassen, ändern sich die Dinge. Schauen wir auf Politik in den 70er Jahren und schauen auf Politik heute. Es hat sich viel getan, aber es dauert.

00:23:20-1 Susanne Klingner: Also schon der Aufruf, tatsächlich sich dann auch politisch zu engagieren.

00:23:23-6 Wolf Lotter: Ja.

00:23:24-2 Susanne Klingner: Also nicht nur zu wählen, sondern wirklich auch Forderungen zu stellen.

00:23:25-5 Wolf Lotter: Und Politik selbst zu machen. Also es genügt natürlich nicht zu sagen, Parteien sind alle doof, sondern geht rein und verändert sie. Bringt sie dazu, sich zu verändern, setzt sie unter Druck und sagt ihnen, was Sache ist. Sonst etablieren sich dort immer dieselben Typen, die durch Absitzen sozusagen was werden und wir brauchen Leute, die sich was trauen, die gibt es ja auch.